Vortrag fesselt das Publikum

Die Anfänge des Ukrainekriegs begleitete Journalistin Luzia Tschirky live vor Ort. Ihre Erfahrungen hat sie nun in einem Buch verarbeitet.
Der Ukrainekrieg bewegt die Menschen nach wie vor. (Bild: sma)

Hausen – Kurz bevor es losgehen konnte, wurden noch eifrig zusätzliche Stühle in den Gemeindesaal getragen. Viel mehr Menschen als erwartet hätten sich in Hausen AG zum Vortrag von Luzia Tschirky eingefunden, wie Gemeinderätin Manuela Obrist in der kurzen Einleitung sagt. Ungefähr 200 Personen zählte die Lesung, die von der Kulturkommission und der Bibliothek Hausen organisiert worden war. Sofort würden die Erinnerungen an jenen 24. Februar 2022 wach, der das Leben von so vielen Menschen für ­immer veränderte, so Manuela Obrist. Auch für sie als damals frisch ­gewählte Gemeinderätin. «Luzia Tschirky war in allen Wohnzimmern der Schweiz. Man hat regelrecht auf sie gewartet», kündigt sie die ehemalige SRF-Korrespondentin an.
«Live aus der Ukraine» heisst die Lesung zum gleichnamigen Buch, das die Fernsehjournalistin aus der Ostschweiz 2024 veröffentlicht hat. Darin beschreibt und verarbeitet sie ihre Erfahrungen, die sie seit dem russischen Angriff gemacht hat. Fotos, ­Videos und Auszüge aus dem Buch ergänzen dabei die sehr persönlichen Anekdoten. Den Anfang macht ein kurzer Film von einem Angriff auf ein fahrendes Auto, und gleich folgt die Frage an das Publikum: «Mit welcher Waffe wurde das Fahrzeug getroffen?» Die Antwort, eine zivile Drohne, zeigt nicht nur die alltäglichen Gefahren in der Ukraine, sondern baut zudem eine Brücke zum Team hinter der Kamera. Denn im Fahrzeug sass Luzia Tschirkys ukrainischer Kameramann, der den Angriff zum Glück überlebte.

Briefe von der Front
Es sind genau diese persönlichen Geschichten, welche die Menschen auch im Hausener Gemeindesaal bewegen. Luzia Tschirky redet schnell, springt gekonnt durch die bisherigen drei Kriegsjahre und verbindet dabei zum Teil bekannte Orte mit menschlichen Schicksalen. Die Geschichten enden allerdings fast alle gleich: schwere Verletzungen, Tod, Verlust. Die andauernden russischen Kriegsverbrechen machen vor niemanden halt. Es ist die neue Lebensrealität für all die Menschen, die nicht vor dem Krieg fliehen konnten. In Butscha, einem Vorort von Kiew, war es eine Mutter mit zwei Kindern, die bei dem Versuch, die Stadt mit dem Auto zu verlassen, von russischen Truppen beschossen wurden. Übrig bleiben verbrannte Kohlestücke in einer orangen Decke. «Das sollen einmal Menschen gewesen sein?», liest Luzia Tschirky aus ihrem Buch. Aus dem stillen Publikum hört man ein «O Gott».
Am Steuer des Wagens sass der ­Familienvater, der schwer verwundet überlebte. Warum er in Butscha, einer Stadt, deren Name später für ein Massaker an der Zivilbevölkerung um die Welt ging, geblieben sei, fragte Luzia Tschirky ihn. Er sei bereits 2014 – nach der völkerrechtswidrigen Annektierung der Krim und den Gefechten im Osten des Landes – aus Donezk geflüchtet. Aber Sicherheit vor Wladimir Putin gebe es nirgendwo, also könne er ebenso gut in Butscha bleiben. Unweit der Kirche, wo seine ­Familie begraben liege.
Die Vororte seien nicht mehr in den Nachrichten, aber immer noch da, erzählt Luzia Tschirky. «Für die Menschen gibt es nur ein Leben vor und eines nach dem Angriffskrieg», so das traurige Fazit der Journalistin. Auf der Leinwand sieht man ein Foto des Familienvaters, wie er aus seinem Küchenfenster blickt. Sein linkes Bein wurde nach dem Angriff amputiert.

Neue Lebensrealitäten
Zuletzt war Luzia Tschirky noch einmal im Januar für eine Schweizer Hilfsorganisation in der Ukraine. Der Angriffskrieg hat auch ihre Lebensrealitäten verändert. Heute wohnt sie mit ihrem Mann und ihrem Kind in Zürich, 2022 lebte das Paar noch selbst in Moskau. Es folgt das fast schon berühmte Bild von Luzia Tschirky, wie sie live von einer viel befahrenden Strasse in der Nähe von Kiew berichtet: Stirnband, blaue Splitterschutzweste, das graue Mikrofon mit dem SRF-Logo in der Hand. Es war Zufall, dass sie genau dort am 22. Februar 2022 war. Ohne das Wissen, dass keine zehn Kilometer entfernt bereits russische Truppen gelandet waren, um den strategisch wichtigen Flughafen einzunehmen. Ein Versuch, der genauso scheiterte wie Putins Plan, das Land in drei Tagen zu erobern.
Die Geschichten von Luzia Tschirky handeln von vielen letzten Besuchen, von Geschehnissen, die knapp ausgingen. Gefährlich sei ihre Arbeit, sagt Luzia Tschirky noch einmal später auf Nachfrage. Aber damals fehlten viele Informationen, um die Situationen richtig einschätzen zu können. Das Schreiben des Buches sei für sie ausserdem ein Loslassen gewesen, eine Bewältigung von vielen prägenden Erlebnissen.

Geopolitik und Sehnsucht
Mit zahlreichen Publikumsfragen endet der Vortrag in Hausen nach knapp zwei Stunden. Das Interesse danach war aber ebenfalls gross. Luzia Tschirky signiert ihr Buch, macht sogar Fotos und hört sich die persönlichen Geschichten der Menschen an diesem Abend an. Das Thema Ukrainekrieg bewegt nach wie vor, und zumindest an diesem Abend bestand ein grosses Mitteilungsbedürfnis, wie die Breite der Wortmeldungen zeigte: von Lob für ihre Arbeit über Kritik an der Schweizer Neutralität in Bezug auf den russischen Angriff bis zu sehr persönlichen Geschichten über Krieg. Und natürlich stand die Frage im Raum, wie der Krieg enden könne und ob danach eine Versöhnung zwischen den «Brüdervölkern» möglich sei. Es war ein sehr eindrücklicher Abend in Hausen, der vielen Besucherinnen und Besuchern sicherlich in Erinnerung bleibt.