Ein allzu gutes Verhältnis zur Bevölkerung

Während des Zweiten Weltkriegs suchten Militärangehörige diverser Nationen Zuflucht in der Schweiz. Eine Herausforderung für alle Beteiligten.
Im Zweiten Weltkrieg fanden Soldaten aus verschiedenen Ländern Zuflucht in der Schweiz. Sie arbeiteten unter anderem beim Wegbau, wie dieses Bild zeigt. (Bild: Album Rosa Pabst, Gemeindearchiv Gebenstorf)

Region – Als Frankreich gegen Ende Juni 1940 kapitulierte, beruhigte sich die Lage an der Schweizer Landesgrenze fürs Erste. Auswirkungen waren im Inland trotzdem zu spüren. So gelangten eine Woche vor dem Waffenstillstand rund 12 000 polnische Militärangehörige über den Doubs in die Schweiz, abgedrängt nach verlustreichen Kämpfen. Sie zählten zur zweiten polnischen Schützendivision, die an der Seite der französischen Armee unser westliches Nachbarland vergeblich verteidigten. Die Soldaten, Unter­offiziere und Offiziere erhielten den kriegsvölkerrechtlichen Status von Militärinternierten. Den Vorgaben entsprechend mussten sie ihre Waffen ab­geben, blieben aber ihren Kom­mandanten unterstellt, erhielten Unterkunft, Verpflegung, Kleidung, Sold und wenn nötig medizinische Pflege.
Schon kurz nach ihrer Internierung im Sommer 1940 waren die Internierten mit Aargauern in Kontakt gekommen. Das Füsilier-Bataillon 56 bewachte im Napfgebiet rund 6000 von ihnen. Ihr Kommandant, Major Ernst Kistler aus Brugg, analysierte dort das «Interniertenproblem». Trotz Einsatz bei der Ernte und in örtlichen Handwerksbetrieben mangelte es nach seinem Dafürhalten an Arbeitsgelegenheiten, sodass Faulenzen und Fussballspielen als hauptsächlicher Zeitvertreib dienten. «Dafür sind sie im Schnitzen von Spazierstöcken tüchtig. Kaum einer, der nicht einen solchen zwischen den Fingern und unter dem Messer hatte. Befragt, woher sie das können, ergab sich, dass sie monatelang vor der Internierung ungefähr nichts anderes gemacht hatten.» Deshalb schlug Kistler vor, die Internierten so rasch wie möglich beim Bau militärisch wichtiger Strassen einzusetzen. Auch beobachtete er das eigentlich zu gute Verhältnis der Internierten zur Zivilbevölkerung.

Vor dem Tor zum Interniertenlager in Gebenstorf sitzt ein Pole in Kniesocken, modischen Knickerbockern, im Hemd und mit modischem Béret. Der Schweizer Wachtsoldat im Hintergrund trägt den dunkelgrünen Waffenrock und einen Helm und hält einen geladenen Karabiner in der HandBild: Album Rosa Pabst (Bilder: Album Rosa Pabst)


Arbeitspflicht seit 1941
Bald lebten im Aargau 2000 internierte Polen in eilends erstellten Barackenlagern. In unserer Umgebung lagen die nächsten im Schenkenber­gertal, in Lupfig, Dättwil, Niederweningen und Gebenstorf, wo auf dem Brunnacher im Oberdorf im November 1940 nicht weniger als 250 polnische Militärangehörige einzogen. Es handelte sich mutmasslich um das grösste Lager im Kanton Aargau, bevor es im Sommer 1943 nach Neuenhof verlegt wurde. Nach einem entsprechenden Befehl waren die Militärinternierten seit 1941 zur Arbeit verpflichtet. So bauten sie rund ums Gebenstorfer Horn Waldstrassen, reparierten Stützmauern, ebneten Stellungen aus den ersten Kriegstagen ein oder unterstützten Bauernfamilien bei ihrer täglichen Arbeit im Stall und auf dem Feld.
Die Schweizer Behörden gaben den nach seiner Farbe benannten ­«Befehl Orange» heraus, der den Umgang der Zivilbevölkerung mit den Polen regelte. Diese sollten an der Flucht und an der Fortsetzung des Kampfes, zum Beispiel in der franzö­sischen Résistance, gehindert werden. Aber gleichzeitig fürchtete man allzu vertrauliche Verhältnisse, Liebschaften, Schwangerschaften und Hochzeiten.
Namentlich bekannt sind nur wenige der internierten Polen. Einer davon hiess Leon Katowiz, Küchenchef des Interniertenlagers Gebenstorf. Seine Geschichte ist dank eines Fotoalbums, das er der Einheimischen Rosa Pabst schenkte, zumindest teilweise bekannt. Die Fotos, alle entwickelt bei Foto Tschanz in Windisch, dokumentieren das Lagerleben. Im Zentrum des Geschehens steht die Küchenmannschaft, die beim Einkaufen naturgemäss Kontakte mit der Gebenstorfer Zivilbevölkerung pflegte. Deshalb sind besonders viele Kinder, Frauen, Alte und auch einige Männer abgebildet. Die Freizeit nutzten die Internierten zu Spaziergängen, für Kunsthandwerk, Sport und Gesang – so geben es die Fotos wieder. Zahl­reiche Abbildungen zeugen von der Erfüllung religiöser Pflichten, zum Beispiel vom Messbesuch in der ­Pfarrkirche, von der Fronleichnamsprozession und der Beerdigung von Oberleutnant Karasinski.

Im Oberen Schulhaus von Gebenstorf prangt als Ausdruck der Dankbarkeit ein Wandbild von Wachtmeister Stanislav ­Stryczek. Als Symbol der humanitären Schweiz kümmern sich fünf Kinder vor imposanter Bergkulisse um einen ermatteten Soldaten, der an seinem Helm als Angehöriger der polnischen Armee erkennbar ist. (Bild: Patrick Zehnder)


Militärische Disziplin
Der polnische Kompaniekommandant Kłodnicki kümmerte sich um die interne Führung. Der eigentliche Lagerkommandant war allerdings ein Schweizer Offizier, dem ein kleines Wachtdetachement von Schweizer ­Armeeangehörigen unterstand. Die straffe militärische Organisation sorgte für einen strengen Tagesablauf von Tagwache und Frühstück über das Ausrücken zur Arbeit, die, nur vom Mittagessen unterbrochen, bis zum Feierabend dauerte. Nach dem abendlichen Hauptverlesen, bei dem ein polnisches Gebet gesungen wurde, gab es bis 22 Uhr Ausgang in einem beschränkten Rayon. Polnische Unteroffiziere, gekennzeichnet mit einer rot-weissen Armbinde, besorgten den Ordnungsdienst, boten Ruhe und ­holten Betrunkene aus den Wirtshäusern. Wer nicht parierte, wurde in Gebenstorf in den steinernen Speicher gesperrt, der noch heute den Namen «Polenkäfig» trägt.
Trotz aller Bemühungen der zivilen und militärischen Behörden gingen mehrere Gebenstorferinnen Ehen mit polnischen Internierten ein. Manche Paare blieben im Dorf, andere kehrten nach dem Krieg zurück nach Frankreich, wo die Ehemänner vor dem Krieg gelebt hatten. Eine dort verwitwete Gebenstorferin kehrte in ihren Heimatort zurück. Auch sonst hinterliessen die Polen einige Spuren: Im oberen Schulhaus zeugt ein Wandbild von ihrer Dankbarkeit. Nicht zu übersehen sind sechs polnische Adler auf dem Friedhof Brühl, wo sie die Gräber von polnischen Internierten zieren, die in umliegenden Lagern gestorben waren.
Die Militärinternierten zogen anscheinend stärker als die zivilen Flüchtlinge beträchtlichen Neid auf sich. So jedenfalls berichteten es die Informantinnen und Informanten des offiziellen Aufklärungsdienstes «Heer und Haus». Die meist jungen Männer in fremdländischer Uniform ver­strömten offenbar einen besonderen Charme, waren fröhlich und attraktiv mit ihren unbekannten Liedern und Gebräuchen. So beklagte eine Lehrerin aus «Stalden bei Brugg» in einem dreiseitigen Bericht am 24. April 1944 den angeblich durch die Anwesenheit von Internierten verursachten Sittenzerfall. «Heer und Haus» bedankte sich für den «sehr wertvollen Bericht» aus dem Umfeld des Lagers am Bözberg, wo gegen Kriegsende zahlreiche Angehörige der deutschen Wehrmacht untergebracht waren.
Nach der Kapitulation des Deutschen Reiches holte im Mai 1945 ein Extrazug die polnischen Internierten in Wettingen ab und brachte sie über Basel in verschiedene Städte im befreiten Frankreich. Auch aus ideologischen Gründen soll kaum einer von ­ihnen in die polnische Heimat zurückgekehrt sein.