Heimwanderer aus Atlanta

Judith Baggenstos, die für einen Ausbildungsaufenthalt in die USA reiste, kehrte vor zwei Jahren mit ihrer Familie nach Würenlingen zurück.
Familie Forgoston in ihrem Zuhause. (Bbild: rho)

Würenlingen – Judith Forgoston hiess noch Baggen­stos und arbeitete als Primarlehrerin, ehe sie 2005 in die USA aufbrach, um dort an einer Bibelschule zu studieren. «Ich dachte, dass ich nach zwei Jahren in die Schweiz zurückkehren würde, doch dann lernte ich meinen Ehemann kennen», erzählt die 47-Jährige. «David und ich entwickelten nicht nur die gleichen Gefühle füreinander, sondern empfanden auch die Glaubenssätze, die dort gelehrt wurden, als engstirnig und dogmatisch, weshalb wir unseren eigenen Weg suchten.» Sie gründeten in Indien eine Schule, die lokalen Pastoren, die sich kein Studium leisten konnten, eine theologische Ausbildung anbot. 2014 zog das Paar mit seinen Töchtern Hannah (16) und Joy (14) zurück in ­Davids Heimatstadt Atlanta, wo Sohn Noah (11) auf die Welt kam.

Die guten öffentlichen Schulen und das selbstständigere Leben, das Kinder in der Schweiz führen können, waren für Judith Forgoston der Hauptgrund, ihrer Familie die Übersiedelung von einer Millionenstadt ins ländliche Würenlingen schmackhaft zu machen, das sie nur aus den Ferien bei den Grosseltern kannten. Am schwersten fiel der Schritt David und Joy. Sie vermisste ihre amerikanischen Freunde schon vor ihrer Abreise, und er sprach nur wenig Deutsch. Inzwischen möchten aber beide den Swiss Way of Life nicht mehr missen. «Ich war der Schweiz gegenüber jedoch schon früher nicht so negativ eingestellt, wie das in der Auswandererserie wirkte», erklärt Joy. «Einige Fragen, die mir gestellt wurden, zielten darauf ab, die Unterschiede zwischen mir und meiner Schwester hervorzuheben, um damit Spannung zu erzeugen.»

Neue Freiheit
Ausserdem gab es einige Gründe, die ihr und anderen Familienmitgliedern die Akklimatisierung erschwerten. Eine besondere Herausforderung war es, während der ersten Monate auf einer Baustelle zu leben, musste doch Judith Forgostons Elternhaus renoviert und umgebaut werden. Wegen der Sommerferien konnten die Kinder zudem noch keine neuen Kontakte knüpfen. «Es war aber auch später schwer, in meiner 3. Bezirksschulklasse Anschluss zu finden, weil sich die Gruppen schon lang gebildet hatten», erinnert sich Hannah. Noah fand durch seine Fussballbegeisterung am schnellsten neue Freunde. Fast täglich frönt er seiner grossen Leidenschaft. In Würenlingen kann er sich spontan mit Gleichgesinnten verabreden oder einfach auf dem Fussballplatz nachschauen, wer da ist, während er seinen Sport in Atlanta nur organisiert betreiben konnte und dafür das Elterntaxi benötigte. Er ist talentiert und spielt beim FC Würenlingen, aber hat noch keine Ambitionen. «Ich will nicht trainieren, sondern einfach Spass haben.»
Die kürzeren Distanzen und die grössere Bewegungsfreiheit schätzt Joy ebenfalls. Den typischen amerikanischen Schulbus würde sie für den Schulweg zwar der Velofahrt über den Hügel nach Endingen vorziehen, aber viele andere Ziele erreicht sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder zu Fuss, wenn sie so nahe sind wie das Enjoy-Dance-Studio, in dem sie Jazzdance und Hip-Hop tanzt. Schwester Hannah ist in der evangelisch-methodistischen Kirche in Windisch Leiterin einer Jugendgruppe. Ihre Mutter bringt sich dort als Gastpredigerin ein. Sie hat bereits zwei Bücher geschrieben. «Das erste ist autobiografisch inspiriert und handelt von einer Reise innerhalb des christlichen Glaubens aus der Enge in die Weite», sagt Judith Forgoston, die auch über theologische Themen bloggt, über den Inhalt. «Im zweiten Roman geht es um einen Pfarrer, der es in den Strukturen seiner Gemeinde nicht mehr aushält und in der Hilfe für Randständige seine Berufung erkennt.»

Von links: Judith, Hannah, David, Noah und Joy Forgoston. (Bild: rhö)


Glück im Unglück
David Forgoston ist wie seine Frau Anhänger einer fortschrittlichen Kirche. «Jeder soll seinen eigenen Zugang zu Gott finden und nicht irgendwelchen Dogmen folgen müssen. Man kann den Glauben nicht erzwingen, aber man kann zu ihm einladen.» Er selbst brauchte vor einem Jahr einen Schutzengel, als er mit seinem Motorrad in einer Kurve auf dem nassen ­Asphalt wegrutschte, auf der Gegenfahrbahn mit einem Auto kollidierte und schwere Beinverletzungen erlitt: «Ich habe neun Wochen im Krankenhaus und in der Reha hinter mir und werde bald zum fünften Mal operiert, aber ich will mich nicht beklagen. Es hätte viel schlimmer kommen können.» Glück im Unglück ist, dass er seine Firma in Atlanta im Bewusstsein, dass seine Deutschkenntnisse nicht ausreichen, um in der Schweiz als Versicherungsbroker arbeiten zu können, so eingerichtet hat, dass er sie aus dem Homeoffice in Würenlingen leiten kann. Schmunzelnd fügt er hinzu, die Firma sei ebenso ein guter Grund, vier Mal pro Jahr in die Stadt zu reisen, in der er aufgewachsen sei, und dort Eltern, Geschwister und Freunde zu besuchen. Ansonsten vermisst er nichts. «Die Schweiz ist ein sehr schönes Land – und sicher. Ich sah schon Dreijährige, die allein Gummibärchen kaufen gingen», so David Forgoston.

Fast ein Paradies
Joy legt ein Veto ein. Vieles, aber nicht alles sei in der Schweiz besser: «Für mich war es ein Kulturschock, als ich hörte, wie häufig andere Jugendliche Ausdrücke benutzten, die rassistisch, fremdenfeindlich oder homophob waren, und wie das meistens toleriert wurde. Nachdem ich diese No-Gos anfänglich kritisiert hatte, sagte ich mit der Zeit immer weniger. Das finde ich schlecht, denn ich will gegenüber ­Diskriminierungen nicht gleichgültig werden.» Judith Forgoston wünschte sich, dass die Schweizer etwas offener wären und andere weniger schnell verurteilen würden, wenn sie nicht so seien, wie sie es erwarteten. «Weil die Amerikaner mit sich selbst viel zufriedener sind, geben sie dir das Gefühl, dass du selbst auch leben darfst, wie du möchtest, und die Freiheit, Sachen auszuprobieren.» Sie bedauert, dass diese Werte in ihrer zweiten Heimat gerade verloren zu gehen drohen, und ermutigt ihre Kinder, sich etwas zu trauen. Das nächste Familienmitglied, das dies tut, ist Tochter Hannah, die im Sommer für ein Austauschjahr nach Frankreich aufbricht. Das würde bestimmt wieder Stoff für eine Folge «Heimweh» hergeben.