Baden – An der Wand in der Boxschule Cross-Boxing, die Ando Hakob seit sechs Jahren leitet, hängen Zeitungsausschnitte über seine Sportlerkarriere mit so schönen Headlines wie «Der Löwe, der nie aufgibt» oder «Der Xherdan Shaqiri des Faustkampfs». Der 36-jährige Berufsboxer unterrichtet in den weitläufigen Räumen im Untergeschoss des Trafo Baden Schülerinnen und Schüler aller Altersklassen in einem von ihm zusammengestellten Mix aus klassischen Boxelementen und Functional Training. Wer könnte das besser als er, der seit 2017 amtierender Schweizer Meister im Super-Leichtgewicht und seit 2021 Intercontinental-Champion der World Boxing Federation im Weltergewicht ist? Sein Weg zum Erfolg war mit Steinen gepflastert, und er hat es in Eigenregie an die Spitze geschafft. «Das ist in der Sportwelt ziemlich einzigartig», meint er stolz. Zum Boxsport kam er erst mit 18 Jahren, und niemand gab dem Spätzünder eine Chance, in die Topliga aufzusteigen.
Von einem Elend ins nächste
«Mein Leben ist kompliziert», beschreibt Ando Hakob (bürgerlicher Name Andranik Hakobyan) seine Vergangenheit. Er wuchs mit zwei Brüdern in einem Dorf nahe der armenischen Hauptstadt Jerewan auf. Die Familie lebte auf dem Bauernhof des Grossvaters, eines Schafhirten. Sein Vater war Elektroingenieur, litt jedoch unter der grossen Arbeitslosigkeit, die im ganzen Land herrschte. «Wir hungerten», erinnert sich Ando Hakob. Die Lebensumstände waren derart prekär, dass seine Eltern sich entschlossen, die Flucht zu wagen, um anderswo eine bessere Existenz aufzubauen.
Der Weg führte zuerst nach Weissrussland, dann über die Grenze nach Polen. «Wir versteckten uns einige Wochen in einem verlassenen Gebäude und warteten darauf, über die zugefrorene Oder nach Deutschland zu gelangen», berichtet er. Zweieinhalb Jahre verbrachte die Familie in einem Flüchtlingszentrum in Triersdorf, dann wurde ihr Asylantrag abgelehnt. Die nächste Station war Frankreich. Doch auch dort stiess sie auf Ablehnung. «Wir resignierten und wollten schon nach Armenien zurück. Da empfahl uns jemand, es doch in Barcelona zu versuchen», erinnert sich Ando Hakob.
In der spanischen Metropole scherte sich niemand um die Existenz der Flüchtlingsfamilie. «Help yourself» war die Devise: «Wir waren mittellos und beherrschten die Sprache nicht. Um etwas zum Anziehen zu haben, durchwühlten wir Caritas-Säcke, und ich wunderte mich oft, was für tolle Klamotten die Leute einfach wegschmeissen.» Er streifte durch Telefonkabinen und suchte nach Münzen, die vergessen wurden, damit er sich etwas zu essen kaufen konnte. Doch das war einfach kein Leben mehr. Mit der Absicht, endgültig nach Armenien zurückzugehen, machten sich die fünf über Lyon auf den Rückweg. Dort empfahl ihnen jemand, noch einen letzten Versuch in der Schweiz zu wagen.
«Weil Genf nicht weit weg war, reisten wir ohne grosse Hoffnung hin. Und dort gab es tatsächlich den ersten Lichtblick auf unserer Odyssee, die drei Jahre lang gedauert hatte», bekundet Ando Hakob. 2000 erhielten die vier eine Asylunterkunft in Ennetbaden und durften bleiben. «Ich wurde nach jahrelanger Schulabsenz wieder eingeschult und lernte erst in der Schweiz richtig zu lesen und zu schreiben. Später machte ich meinen KV-Abschluss», sagt er. Nach einigen Jahren in Baden lebt er mit seiner Freundin Giada seit zwei Jahren in Wettingen. Ihren Namen hat er auf seinem Handgelenk tätowiert. «Wir sind seit elf Jahren zusammen, und sie hat mich in jeder Lebensphase unterstützt», erzählt er dankbar.
Erst Rückschlag, dann Aufstieg
Mit dem Boxsport fing Ando Hakob an, weil er ihm Selbstsicherheit gab. «Ich wurde in der Schule gehänselt. Zudem musste ich zusehen, wie sich meine Mutter nach dem Tod meines Vaters durchs Leben kämpfte. Im Ring konnte ich meinen Gefühlen ihren Lauf lassen und sie kanalisieren», sagt er zu seinen Anfängen. Er trainierte geradezu verbissen und gewann erste Kämpfe. Aufgrund wesentlich besserer Trainings- und Fördermöglichkeiten zog es ihn nach Singen im benachbarten Deutschland, wo man ihn wegen seines Talents bald im Profilager aufnehmen wollte. «Weil ich unbedingt weiterkommen wollte, war ich für die Trainings mit meinem Asylantenstatus illegal über die Grenze gereist. Als das herauskam, bekam man kalte Füsse und liess von mir ab.» Ab dato hatte er keinen Club mehr und trainierte in Fitnesscentern, draussen, einfach überall, wo es ging. Er boxte oft gratis an Veranstaltungen, um auf sich aufmerksam zu machen. Insgesamt bestritt er 111 Amateurkämpfe. Davon verlor er nur deren 10. Der Rest ist Geschichte.
2019 eröffnete er mit 40 Franken auf dem Konto sein Boxzentrum Cross-Boxing im Trafo. Bekannte Badener bürgten für ihn. Seither verfügt er vor allem als Personal Trainer über ein regelmässiges Einkommen, von dem er leben kann. Und hat damit den grössten Kampf seines Lebens gewonnen: den Kampf um seine Existenz.