Von Kätzershexen und wüsten Hunden

Die Kirchenbücher aus Thalheim geben Auskunft über die Taten und Untaten der Menschen und geben Einblick in das Innenleben eines Dorfes.
Ein Blick in die Chorgerichtsprotokolle von 1628 bis 1857

Thalheim – Es geschah vor fast genau 300 Jahren. Am Sonntag, 22. Juli 1725. Der Thalner Pfarrer Samuel Spengler hatte das Amen gesprochen und die Gemeinde nach dem Gottesdienst entlassen. Er kannte seine Schäfchen, amtete er doch schon seit 13 Jahren als Seelsorger, Mahner, Prediger und Wächter über die guten Sitten der Thalnerinnen und Thalner.
Heute behielt er Susann Hug und Abraham Peyer zurück. Die beiden mussten vor Chorgericht erscheinen. Vorn, im Chor der Kirche – daher die Bezeichnung Chorgericht –, hatten die Chorrichter ihre Plätze eingenommen. Als Vorsitzender amtete der Untervogt Uli Wernli. Ausserdem ­waren da sein Stellvertreter Hans Dietiker und die Beisitzer Hans Buchmann, Samuel Wernli, Hans Hug und Hans Joggi Dietiker. Der Pfarrer gehörte dem Chorgericht von Amtes ­wegen an. Er führte das Protokoll. Nur «Mein Hochgeehrter Herr Obervogt Fellenberg» fehlte: Er nahm nur sehr sporadisch an den Sitzungen des Chorgerichts teil, behielt sich aber in heiklen Fällen die richterliche Gewalt vor.

Tanzen als Vergehen
Zuerst wurde Susann Hug vorgeführt: «Ob sie nit sonntags den 8. July getanzet habe?» Das Tanzen galt damals als Vergehen, als moralisch verwerflich. Der Obrigkeit war die unliebsame Annäherung der Geschlechter suspekt. Die Vorwürfe gegen Susann Hug waren aber noch ernsthafterer Art. Das Chorgericht hatte erfahren, dass sie mit Abraham Peyer «gegen die räben hinein gestigen, daselbst hinder dem Haag mit oder under ihne nidergelegen sey». – Nein, sei sie nicht!
Nun war die Reihe an Abraham Peyer. «Ob er nit die Susann vornen beym fürtuch ergriffen, zu sich nider gezogen und endlich zu ihr und auf sie gelegen seye?» – Nein, sei er nicht. – Die Sache wurde vertagt.
Am 10. August 1725 erschien der Obervogt höchstpersönlich. Susann und Abraham wurden erneut befragt. Als Zeugen sagten zudem Heirech Spilmann und Bethli Wernli aus. Und die 18-jährige Babeli Wernli gab zu Protokoll: «Es habe jenen, da sie noch auf einander oben gelegen, zugeschrauen: Peyer! oder Süsi! Wart, ich wils schön deinen leüten sägen!»

Der erste Eintrag datiert vom 15. Juni 1628: «Ist im Chorgricht umbfrag gehalten undt verzeigt worden Mattheis Falcken fraw, welche wüste, schandtliche undt verwüstliche wort gegen Uli Mäder undt sinem knaben soll ussgestossen han …». (Bild: pb)



«Zu einem besseren lebwäsen»
Trotz allem bestritten die beiden Ange­klagten weiterhin ihre Tat. Und so musste das Oberchorgericht in Bern abschliessend entscheiden. Dieses verhängte eine überraschend harte Strafe. Abraham und Susann wurden «zu einem besseren lebwäsen an­gemahnt und sechs mal vier und zwanzig stund in gefangenschafft ­gesezt».

Gebote und Verbote
Das Chorgericht hatte die Aufgabe, im weitesten Sinn über das moralisch-sittliche, gottesfürchtige und der ­Obrigkeit gefällige Verhalten der betreffenden Kirchgemeinde zu wachen. Jedes Abweichen der geltenden Norm wurde aufgegriffen, untersucht, verhandelt und – selbst auf blosse Vermutung hin – abgestraft. Zu den Vergehen, denen das Thalner Chorgericht nachgehen musste, gehörten zunächst «mangelhafter Kirchgang», ungebührliches Verhalten im Gottesdienst und Sonntagsarbeit wie zum Beispiel Kirschen pflücken. Besonders häufig kam häusliche Gewalt aufs Tapet: Misshandlung der Ehefrau oder der Eltern, ganz allgemein Hausstreit und sogar Kindesmisshandlung. Einige Wirtshäuser scheinen wahre Sündenpfuhle gewesen zu sein. Es kam zu Volltrunkenheit, Nachtruhestörung, Schlägereien, und zuweilen mussten Wirte abgestraft werden, weil sie Ort und Platz für Tanz oder verbotenes Spiel gegeben hatten.
Viel Raum nahmen Vergehen «zwischenmenschlicher» Natur ein: «ungebührlicher Umgang», Ehebruch, «Hurerei» und Eheversprechungen, die – fast immer vom Mann – nicht eingehalten wurden.
Immer wieder musste das Chor­gericht Strafen wegen «Fluchen und Schwören» verhängen. Den erbosten Naturen stand damals eine erstaun­liche Bandbreite an Fluch- und Schimpfwörtern zur Verfügung. Man bezeichnete sich als donnerschiessige Hur, Kätzershex, dauerscheissige Hex, Donners-Kätzers-Huren-Hund, Lugengeist, Kindsverderberin, wüster Hund, als «Täsch» oder als «Föütsch».
Seltener musste das Gericht Strafen wegen fahrlässigen Schulbesuchs, Hausfriedensbruchs und Bettelei aussprechen, zu der vor allem Kinder ausgeschickt wurden. Ferner war es den Thalnern verboten, katholische Orte aufzusuchen – zum Beispiel Hornussen oder Frick –, wo es vor allem bei Kirchweihfesten oder in der Fasnachtszeit lustig zu und her ging.

Wer ist der Vater?
In Thalheim sind drei Protokollbücher des Chorgerichts erhalten. Sie umfassen die Jahre 1628 bis 1664, 1720 bis 1811 und 1816 bis 1857. Die Aufzeichnungen weichen über die Jahre sehr markant voneinander ab. Am deutlichsten lässt sich das ablesen, wenn sich das Gericht mit einer vorehe­lichen Schwangerschaft befassen musste. Vorehelicher Beischlaf war selbstverständlich streng untersagt. Anfangs drangen die Richter mit aller Macht darauf, dass die Schwangere den Namen des Vaters herausrückte. Notfalls kam es – nicht selten – zur hartnäckigen Befragung während des Geburtsvorgangs. Schliesslich ging es um den zu erwartenden Unterhalt des Kindes, also um Kosten, die der Gemeinde zufielen, wenn der Schwängerer unbekannt blieb. Der Frau wurde für ihr Fehlverhalten eine Busse oder eine Gefangenschaft auferlegt.
In späteren Jahren ist von einer Strafe keine Rede mehr. Es ging im Wesentlichen noch darum, wer als Pfleger des Kindes bestimmt wurde. So heisst es beispielsweise am 5. September 1850 lapidar: «Anna Maria Schmidli, Murerkäspis, zeigt an, sie sei den 6ten März durch Johann Wirz, Schreiner, v. Thürnen, Kt. BaselLand, in Thürnen schwanger worden. Pfleger: Jakob Schmidli, Zimmermann.»

Die Hand des Friedens
Es liessen sich nun Dutzende von sonderbaren Vergehen zitieren, die in den Protokollbüchern festgehalten sind, zum Beispiel jenes, als eine Frau beim Verlassen der Kirche ihre Nachbarin mit Fusstritten traktierte, oder der Streit zweier Nachbarn, die sich wegen eines Schweins geprügelt hatten, das in den Garten des einen eingedrungen war.

Beispielhaft sei hier nur der Fall angeführt, der am 23. März 1749 verhandelt wurde. Es ging um eine Mistgabel, die von Anna Barbara Umiker gestohlen worden sei. Diese reagierte ziemlich ungehalten und begoss die Klägerin «aus Zorn mit einem Züber voll Wasser». Darauf wurde sie mit «Franzosen Hur, Kindsmörderin und Verderberin und andern Lästerwort mehr» betitelt. Das Chorgericht mahnte die Parteien zu Einigkeit und Frieden an; sie sollten sich «die Hand des Friedens geben».
Es war Balthasar Füchslin, der Pfarrer von Umiken, der am 29. Juli 1666 einen Eintrag in jenes Chorgerichtsbuch mit dem Stossseufzer schloss: «ô das Gott erbahrm!»