«Das ist schon sensationell!»

Die Mitarbeiter der Kantonsarchäologie haben den ersten bisher bekannten Auensteiner gefunden – ihn und sein Schwert.
Das Grab eines erdbestatteten Mannes, der im Frühmittelalter gelebt hat; rostrot verfärbt das im Text erwähnte Schwert. (Bild: Kanton Aargau, Kantonsarchäologie)

Auenstein – «Er muss eine bedeutende Persönlichkeit gewesen sein, mindestens so etwas wie ein Dorfhäuptling», erklärt Christian Maise. Als Bereichsleiter Ausgrabungen im Kanton und als Spezialist für Frühgeschichte kann er die Bedeutung des Fundes genau einschätzen. Zusammen mit dem ebenfalls seit mehreren Jahrzehnten als Archäologe tätigen David Wälchli war er in Auenstein vor Ort, als mit den Aushubarbeiten für ein neues Bauvorhaben im Husacher begonnen wurde. Wälchli sagt: «Nachdem wir in Auenstein schon auf andere Fundstellen gestossen waren, hatten wir die Vermutung, dass es sich lohnen könnte, die Bodenschichten hier genau unter die Lupe zu nehmen.» Worauf gründete sich dieser Verdacht? «Verschiedene Besonderheiten sind genau an diesem Platz gegeben, nämlich eine relativ ebene Stelle am Hangfuss und die Nähe zur Kirche. Diese ist zwar bedeutend jünger, aber noch wissen wir nicht, ob da, wie andernorts, ein älterer Vorgängerbau existierte, möglicherweise ein Holzbau. Jedenfalls gibt es keinen Zweifel, dass es in Auenstein in sehr frühen Zeiten eine Siedlung gab.»

Die Zusammenarbeit mit dem Baggerführer klappte ausgezeichnet. Er trug zuerst die Humusschicht ab und arbeitete sich dann behutsam in tiefere Schichten vor, immer unter Beobachtung und nach Anweisungen der Archäologen. Tatsächlich stiessen sie bald auf ein römisches Brandgrab. Viel war nicht erhalten: einige wenige Scherben der Urne, einige Knochenreste und, besonders wichtig für die zeitliche Einordnung des Grabes, eine Münze und eine bronzene Fibel. Fibeln entsprechen in ihrer Funktion einer Sicherheitsnadel; sie dienten dazu, das Gewand zusammenzuhalten und waren gleichzeitig Schmuck.

Entdeckung im letzten Moment
Wo ein Grab ist, ist eine Siedlung. Also ging die Suche nach Siedlungsspuren weiter. Mit Erfolg! Bodenverfärbungen – eine Feuerstelle – erbrachten den Beweis, dass hier zur Bronzezeit Menschen gelebt hatten, also schon 1000 bis 1500 vor Christus. Wälchli erzählt: «Beinahe hätten wir dann die Hoffnung aufgegeben, noch auf weitere menschliche Spuren zu stossen.» Er telefonierte mit der Zen­trale und meldete den Abbruch der Grabung. 

Fünf Minuten später widerrief er seine Meldung. Er hatte eine Merkwürdigkeit entdeckt, zunächst nur ein vielleicht fünf Franken grosses Knochenstück, das sich beim vorsichtigen Tiefergraben als Teil eines menschlichen Schädels erwies. Mit der erforderlichen Vorsicht wurde schliesslich ein ganzes Körpergrab freigelegt. Hier lagen die Überreste eines wohl recht jung verstorbenen Mannes – der Zustand des Gebisses lässt diesen Schluss zu –, dem man ein etwa 80 Zentimeter langes einschneidiges Schwert ins Grab mitgegeben hatte. Das und die verzierten Gürtelschnallen weisen auf den hohen Stand des Bestatteten hin. Maise ordnet ein: «Dieser Fund darf schon als eine Sensation bezeichnet werden. In den letzten Jahrzehnten wurden im Aargau nur zwei oder drei vergleichbare ­Gräber entdeckt.»

Ein früher Tod
Der Mann, dessen Überreste hier ­offengelegt wurden, war bei seinem Tod etwa 20 bis 30 Jahre alt und un­gefähr 160 Zentimeter gross. Er lebte im Frühmittelalter, um das Jahr 650, also in einer Zeit, als von den Städten Aarau, Lenzburg und Brugg noch weit und breit nichts zu sehen war. Nicht einmal die Habsburg stand damals schon. Gemäss Maise war es eine ziemlich ungemütliche Zeit; es herrschte ein kaltes Klima, und die Pestwelle des 6. Jahrhunderts war den Menschen noch in Erinnerung. Im ­Moment lässt sich aber noch nicht sagen, weshalb dieser Mann in so jungen Jahren verstorben ist. Die Untersuchung der Knochenfunde könnte darüber näheren Aufschluss geben. In einem dafür spezialisierten Basler ­Institut wird das Skelett anthropologisch genau begutachtet: Gibt es Spuren einer Verletzung, einer schweren Krankheit, andere körperliche Gebrechen? Lässt sich etwas über die Ernährung des Mannes sagen?

Das Schwert wurde nicht vollständig freigelegt, sondern mit dem umgebenden Erdmantel in Gips gegossen und wegtransportiert. Es soll nun geröntgt werden, um allfällige Spuren oder Verzierungen zu erkennen. Untersucht wird so auch der Griff der Waffe, von dem noch Holzreste im alles überziehenden Rost erhalten sind.

Wer war der Mann?
All diese Arbeiten dürften ein gutes Jahr in Anspruch nehmen. Danach lässt sich mehr über diesen spektakulären Fund sagen. Doch wozu das alles? Was bezweckt man mit diesem ganzen Aufwand? Maise antwortet: «Wir wissen sehr wenig über die Zeit, in der dieser Mann gelebt hat. Jeder Fund vermittelt Hinweise, wie die Menschen damals gelebt haben. Es geht also darum, unser Geschichtsbild zu verfeinern, nähere Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie die Lebenswirklichkeit jener Menschen aussah.»

Längst wurde der Fundort zur Überbauung freigegeben. Zuvor, und noch vor der Hebung des Skeletts, wurde die ganze Situation detailliert fotografisch dokumentiert. Das geschah mit einem Spezialverfahren, das eine dreidimensionale Ansicht ermöglicht, die wesentlich exakter ist, als es eine noch so sorgfältig angelegte Zeichnung sein könnte.

Die wesentlichsten Fragen lassen sich aber trotz modernster Technologie nicht beantworten: Was für ein Mensch war das? Hatte er tiefgründige Gedanken? War er ein Choleriker, ein Kinderfreund? War er eitel, nachtragend, feinfühlig, geduldig, knauserig? War er ein Grübler? Kannte er lustige Witze? Welche Laster und Tugenden waren ihm eigen? Glaubte er an eine Gottheit? – Letztlich sind es ja diese Dinge, welche die Persönlichkeit eines Menschen, ja das Leben selbst ausmachen.