Kleines Band mit grosser Wirkung

Nicht alle Behinderungen und Beeinträchtigungen sind auf den ersten Blick erkennbar. Hier setzt das Projekt «Hidden Disabilities Sunflower» an.
Cédrine Hollinger ist täglich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs. Sie begrüsst das Projekt «Hidden Disabilities Sunflower», trägt den Bändel selbst aber trotzdem nicht. (Bild: isp)

Fislisbach – Bei einer Rollstuhlfahrerin oder einem Menschen mit Blindenstock ist für Aussenstehende sofort klar: Diese Person lebt mit einer Behinderung oder Beeinträchtigung. Doch nur bei rund einem Fünftel der Menschen mit einer Behinderung ist diese auch tatsächlich augenfällig und sofort ersichtlich. Bei einer grossen Mehrheit der Betroffenen sind Einschränkungen und/oder Symptome von körperlichen Behinderungen oder chronischen Erkrankungen auf den ersten Blick nicht erkennbar.

Die Liste der nicht offensichtlichen Einschränkungen ist lang: Gehörlosigkeit, Erkrankungen der inneren ­Organe, ADHS, Depressionen, Long Covid oder Autismus-Spektrum-Störungen fallen genauso unter unsichtbare Behinderungen wie beispielsweise Angststörungen, multiple Sklerose oder Demenz.

Herausforderungen beim Reisen 
Gerade das Reisen ist für Personen mit nicht sichtbaren Einschränkungen häufig mit Stress verbunden. ­Ungewohnte Umgebungen, viele Menschen und zahlreiche intensive Sinneseindrücke können schnell zu Überforderung führen. Das ist vor allem für Menschen mit Autismus-Spek­trum-Störungen oder für Fahrgäste mit psychischen oder neurologischen Erkrankungen wie Angststörungen oder Migräne eine Herausforderung. Hinzu kommt, dass die Problematik in der Gesellschaft weniger präsent ist und Menschen mit unsichtbarer Behinderung im Leben eher auf Fragen und Unverständnis stossen als Menschen mit sichtbaren Einschränkungen.

Beim Unterwegssein kommt es deshalb immer wieder zu Problemen oder sogar Konflikten. Im Jahr 2016 wurde deshalb am Londoner Flughafen Gatwick eine Initiative gestartet, um Passagiere mit nicht sichtbaren Einschränkungen beim Reisen zu unterstützen. Als Erkennungszeichen dient ein Bändel mit Karte, den man sich während des Reisens umhängen kann.

Der Bändel ist grün und mit gelben Sonnenblumen versehen – ein Sun­flower-Lanyard (Sonnenblumen-Schlüsselband). Zwischenzeitlich ist die «Hidden Disabilities Sunflower», die auf versteckte Einschränkung hinweist, in der Schweiz angekommen. Die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) sprangen auf diesen Zug auf und wurden Teil des Projekts. Auch viele Fluggesellschaften sowie verschiedenste Schweizer Organisationen machen beim Sunflower-Projekt mit.

In der Schweiz erhalten Betroffene seit Juni in 16 SBB-Reisezentren in den Grossräumen Zürich und Genf gratis und ohne Nachweispflicht das Schüsselband mit den Sonnenblumen des Projekts «Hidden Disabilities Sunflower» ausgehändigt. Betroffene können das Schlüsselband situativ und nach ihrem Ermessen tragen und so diskret auf ihre unsichtbare Behinderung aufmerksam machen. So können Mitarbeitende der Verkehrsbetriebe und Mitreisende besser auf die speziellen Bedürfnisse der Betroffenen reagieren. Das Personal der SBB wurde diesbezüglich extra geschult.

«Ich fühle mich zu normal»
Cédrine Hollinger aus Fislisbach ist seit ihrer Geburt körperlich eingeschränkt. Sie leidet unter Zerebral­parese, einer halbseitigen Körperlähmung, was man der 35-Jährigen aber kaum ansieht. «Die Idee mit dem ­Bändel finde ich recht gut durchdacht. Viele Personen haben selten bis nie Berührungspunkte mit Menschen, die eine Beeinträchtigung haben. Sie kennen niemanden, der ein Handicap hat, und sind deshalb nicht sensibilisiert», weiss Cédrine Hollinger. «Dieser Bän­del würde den Austausch im Alltag sicher vereinfachen.»

Trotz dieser positiven Haltung gegenüber dem Konzept würde die Fislisbacherin einen solchen Bändel selbst eher nicht tragen, da sie auch Nachteile sieht: «Ich fühle mich dafür zu ‹normal›. Ich benötige selten Hilfe und reise täglich selbstständig mit Bus und Bahn zur Arbeit. Der Bändel würde mich in eine Schublade stecken, in die ich nicht hinein möchte. Dann stünde nur meine Beeinträchtigung im Vordergrund und nicht ich als Person.»

Zum Outing stehen
Das versteht Vanessa Kleeb, ebenfalls aus Fislisbach, die an chronischem Fatigue-Syndrom leidet, das ebenfalls zu den unsichtbaren Behinderungen gehört. Schon mehrfach hat die 50-Jährige ähnliche Aussagen von Betroffenen gehört, insbesondere von jüngeren. «Einen Sunflower-Lanyard zu tragen, bringt immer ein Outing mit sich. Wie bei jedem Outing kann das positive, nicht selten aber sogar negative Effekte mit sich bringen. Im schlimmsten Fall werde ich bevormundend behandelt oder sogar angegriffen», gibt Vanessa Kleeb zu bedenken. «Ich trage den Bändel bewusst an meinem Rucksack, um darauf aufmerksam zu machen. Ich bin selbst wenig gefährdet und krankheitsbedingt nur selten unberechenbaren Situationen ausgesetzt, mitunter weil ich kaum reisen muss. Es ist mir aber wichtig, auf die an sich gute Idee aufmerksam zu machen und andere Betroffene zu ermutigen. Nur schon, um zu zeigen: Du bist nicht ­allein.»