Zwischen Empathie und Überforderung

Hochsensible Menschen er­leben die Welt intensiver und sind oft empathischer, dafür aber schneller überfordert oder erschöpft.
Empfindsamkeit als Stärke: Wie hochsensible Menschen die Welt erleben. (Bild: AdobeStock.com – DimaBerlin)

Baden – Vor vielen Jahren schon musste sich die amerikanische Ärztin Elaine Aron (81) einer Operation unterziehen, was sie damals emotional sehr aufwühlte. Ihr wurde von den Ärzten deshalb eine psychologische Behandlung verordnet. Als bei ihr aber keine krankhaften Syndrome diagnostiziert werden konnten, wurde sie schlicht als «hochsensibel» beschrieben. Im Nachgang dazu prägte Elaine Aron die Begriffe «Hochsensibilität» und «hochsensibler Mensch». Mittlerweile ist sie die weltweit führende Forscherin auf diesem Gebiet.

Als Pionierin prägte sie den Begriff «Highly Sensitive Person» (HSP) und brachte ihn erstmals in den 1990er-Jahren in die wissenschaftliche Diskussion ein. Sie veröffentlichte das Buch «The Highly Sensitive Person» – zu Deutsch: «Die hochsensible Person». Neben dem heute umgangssprachlich geläufigen Begriff «Hochsensibilität» wird das Phänomen als Hochsensitivität, Hochempfindlichkeit, Hypersensitivität oder Hypersensibilität beschrieben. Gemäss Elaine Aron handelt es sich bei der Hochsensibilität nicht um eine Krankheit, sondern um eine genetisch bedingte Eigenschaft. Allerdings schliesst sie nicht aus, dass ein geringer Teil der hochsensiblen Menschen die Hochsensibilität im Laufe ihres Lebens durch Traumata oder Dauerstress erworben haben könnte.

Immer auf Draht
In ihrer Forschungsarbeit kommt die Psychologin zu dem Schluss, dass etwa 15 bis 20 Prozent der Menschen hochsensibel sind. In ihrer Arbeit zeigt sie auf, dass hochsensible Menschen eine stärker entwickelte Wahrnehmung und eine intensivere Reaktion auf äussere Reize haben. Sie sind zudem häufig reflektierter als Menschen mit «gewöhnlicher» Sensibilität, was sowohl Vor- als auch Nachteile mit sich bringen kann. Elaine Aron ist der Überzeugung, dass bei hochsensiblen Menschen sämtliche äusseren und inneren Reize, Einflüsse und Informationen gründlicher und uneingeschränkter vom Nervensystem weitergeleitet und verarbeitet werden als bei «normal sensiblen» Menschen.

Personen mit hoher Sensibilität nehmen dabei einerseits optische oder akustische Reize stärker wahr, andererseits aber auch Reize wie nonverbale Signale in sozialen Interaktionen. Sie reagieren empfindlicher auf äussere Eindrücke. Weiter prägen sich ihnen in der Regel Details ein, die anderen nicht bewusst sind. Kehrseite der Medaille ist eine Tendenz zur Überstimulation. Besonders in lauten, hektischen Umgebungen oder in stressigen Situationen können die Eindrücke schnell zur Überforderung führen.

Elaine Aron «The Highly Sensitive Person». (Bild: AdobeStock.com – Hamdi Bendali)

Rückhalt in der Gemeinschaft
Roswita Wehner führt seit mehr als zehn Jahren eine Yoga-Therapie-Praxis in Baden und hat schon vor längerer Zeit erkannt, dass sie von vielen Mitmenschen umgeben ist, die hochsensibel sind, und selbst zu dieser Gruppe gehört. Deshalb hat sie eine Selbsthilfegruppe für Personen mit Hochsensibilität ins Leben gerufen. «Der Austausch in der Gruppe ist sehr bereichernd, und viele hochsensible Menschen empfinden es als hilfreich, wenn sie Gleichgesinnte treffen. So lernt man, sich selbst besser zu verstehen und Strategien zu entwickeln, um mit den intensiveren Wahrnehmungen und Reaktionen besser und entspannter umzugehen», erläutert Roswita Wehner.

Ebenfalls vermutet die Nussbaumerin Suzana Senn-Benes, in Baden bekannt durch die Benefizaktion mit den grossen, bunten Plastikherzen, bei sich selbst eine hochsensible Persönlichkeitsstruktur. «Ehrlich gesagt, weiss ich nicht, ob ich hochsensibel bin. Ich kann die Menschen gut wahrnehmen. Ich spüre schnell, wie es jemandem geht, oder ich melde mich im passenden Moment bei einer Person, der es nicht gut geht. Ebenso nehme ich Schwingungen in einem Raum wahr, man kann das wohl als Energie verstehen», überlegt sie. Suzana Senn-Benes freut sich über ihre sensible Persönlichkeitsstruktur, und sie fühle sich gut, wenn sie spüre, dass ihre Art beim Gegenüber gut ankomme. «Ich kenne es ja nicht anders. Ich lebe schon mein ganzes Leben lang so.» Sie störe sich auch nicht besonders an Geräuschen und sei ohnehin eher ein visueller Mensch. «Oft sehe ich Dinge, an denen die Leute sonst einfach vorbeigehen, beispielsweise Details in der Natur – die Herzform eines Blattes, ein Marienkäfer oder ein Gänseblümchen, das aus dem Asphalt wächst. Mich springen solche Motive einfach an. Dann schlägt mein Herz höher, und ich spüre ein unend­liches Glücksgefühl.»