Region – Eine ältere Frau steht pünktlich am 11-Uhr-Halteplatz an der Ennetbadener Höhtalstrasse bereit, das Einkaufswägeli bei Fuss. «Er hat Verspätung, wahrscheinlich wollen sich alle noch verabschieden», sagt die Kundin, als es schon 11.20 Uhr ist. Sie hat keine Eile, sondern blickt dankbar zurück: Lange Jahre habe sie gern im Milchexpress von Erich Gutknecht eingekauft, der dreimal die Woche nach Ennetbaden gekommen sei. An diesem Montag, 6. Oktober, absolviert er die letzte Tour in diesem Gebiet, am Dienstag folgt der Abschied in Nussbaumen, Untersiggenthal und Turgi. Um 11.30 Uhr kommt er angefahren.
«Plötzlich reissen sich alle um mich», sagt Erich Gutknecht mit einem Schmunzeln, «das ‹Badener Tagblatt› brachte schon einen Bericht, und morgen fährt eine Radiojournalistin vom ‹Regionaljournal› mit.» Nach dem kräftigen Hupen, mit dem er sein Eintreffen ankündigt, erscheinen bald eine Handvoll weitere Damen und zwei Kinder, die Schulferien haben. Die Frauen kennen sich, man hält einen kurzen Schwatz und schäkert mit Erich Gutknecht, der auch nicht um einen Spruch verlegen ist. Es sind wertvolle Begegnungen an einem Ort, wo öffentliche Treffpunkte rar geworden sind. Der Milchexpress ist nicht nur ein Laden, sondern eine Art Dorfplatz auf vier Rädern.
Alltagsbedarf im Angebot
39 Jahre lang fuhr der Kleinlaster durch Nussbaumen, 38 Jahre durch Ennetbaden. Im Angebot war alles, was in der Küche und darüber hinaus zum Alltagsbedarf zählt, vieles aus der Region: Gemüse und Blumen vom eigenen Hof, Brotwaren aus Endingen, Beeren aus Otelfingen, Früchte und Eier aus Hettenschwil, Milchprodukte aus Wald ZH, Honig aus Leuggern, aber ebenso die beliebten Kernser Teigwaren. Dazu kamen selbst gemachte Konfitüren, Kuchen, Guetsli und Sugos. Die Routen führten durch Randgebiete ohne Laden und kamen so insbesondere älteren Menschen zugute. Auch beim Alterszentrum Gässliacker wurde Station gemacht.
Beim zweiten Halt in Ennetbaden tritt eine Frau mit ihrer Enkelin aus dem Haus. «Wir haben von Beginn an im Milchexpress eingekauft», sagt sie und spricht damit für drei Generationen: die Eltern, die Kinder und nun die Enkel. Sie würden dieses Angebot sehr vermissen.
Für Erich Gutknecht kamen mehrere Gründe zusammen, die fürs Aufhören sprachen: «Im Frühling bin ich 65 Jahre alt geworden, und ein Mitarbeiter wurde jetzt pensioniert.» Zudem hätten die beiden Einsatzwagen das Ende ihrer Lebensdauer erreicht. Hinzu kommt der zu geringe Umsatz, der den Aufwand immer weniger lohnt. «Die Konkurrenz durch Läden, Onlineangebote und die Motorisierung der Kundschaft ist einfach zu gross geworden.» Während der Coronapandemie seien sie förmlich überrannt worden, «von einem Tag auf den anderen hat es ‹tschäderet›», nach Beendigung der Coronamassnahmen sei die Kundschaft aber auf einen Schlag wieder zusammengeschrumpft. «So weiss man eben nie, womit man rechnen kann.»
Dankbarkeit und Wehmut
Beim dritten Halt in Ennetbaden schaut ein Mann in den Vierzigern vorbei, ohne etwas zu kaufen. «Er brauchte heute nichts, wollte sich aber noch verabschieden», sagt Erich Gutknecht. Eine Mischung aus Dankbarkeit und Wehmut schwingt bei allen mit, die zum letzten Mal in den Milchexpress kommen: Hier geht ein geschätzter langjähriger Kontakt verloren.
Dabei war der rollende Laden in Kuhfelloptik in Ennetbaden nicht von Anfang an willkommen. Nachdem Erich Gutknecht 1986 seinen Dienst in Nussbaumen gestartet hatte, zeigten auch Leute aus der Nachbargemeinde Interesse und stellten auf ihren Grundstücken Halteplätze zur Verfügung. Die Gemeinde intervenierte jedoch, und auf der ersten Fahrt sass ein Polizist mit im Wagen, um nach allfälligen Parkierverstössen zu fahnden (grundsätzlich verbieten konnte man sein Tun nicht). «Das war natürlich zur Einschüchterung», sagt der Bauer heute lachend. Er liess sich nicht unterkriegen und erarbeitete sich mit seinem Service den Respekt vieler Einkäufer. Wenn jemand sehr schlecht auf den Beinen war, lieferte er manchmal vor die Haustür. Oder er besorgte Katzenfutter, das er nicht im Sortiment hatte, um einer treuen Kundin den Weg in den Grossverteiler zu ersparen – und das alles ohne Aufpreis. Zudem waren Erich Gutknecht und sein Angestellter Urs Minder fast das ganze Jahr unterwegs: Zwei Wochen Ferien im Februar und eine Pause zwischen Weihnachten und Neujahr waren die einzigen Unterbrüche.
Nun verbringt der Bauer mehr Zeit auf seinem Betrieb auf dem Homberg. Eines der beiden Milchexpress-Fahrzeuge bleibt als stationärer Hofladen im Einsatz, der am Samstag von 8 bis 12 Uhr geöffnet ist. Daneben laufen die Gemüseabos weiter.
«Wie sich die Sache weiterentwickelt und wie das Sortiment im Laden aussehen wird, hängt von der Nachfrage ab», sagt der 65-Jährige. Nachdem er jahrelang zu seinen Kunden gefahren ist, wird sich zeigen, wie viele nun den Weg zu ihm auf sich nehmen (können).