Wie Kletterstangen an Schulen gelangten

Mitte des 20. Jahrhunderts trat ein neuer Oberschullehrer vor die Birmenstorfer Jugend. Als Offizier hielt Max Rudolf viel von körperlicher Ertüchtigung.
1879 malte Albert Anker (1831 – 1910) seine «Turnstunde in Ins». Das Ölgemälde zeigt vier Jahre nach der ersten Lehrer-Rekrutenschule, wie der Schulmeister seine Buben exerzieren lässt. Vielleicht lässt er sie anschliessend die Kletterstange erklimmen. Albert Anker gehört zu den künstlerischen Chronisten des jungen Schweizer Bundesstaats. (Bild: Sammlung Christoph Blocher)

Birmenstorf – Als sich Max Rudolf (1928 – 2024) im April 1952 vor der Wandtafel im Birmenstorfer Schulhaus aufbaute, waren seine Schützlinge gespannt. Die Sechst- bis Neuntklässler vertieften beim jungen Lehrer nicht nur ihre ­Fähigkeiten im Rechnen, Lesen und Schreiben sowie ihre Kenntnisse in Heimatkunde, Geschichte, Geografie und Naturwissenschaften. Ganz besonders am Herzen lag Max Rudolf die körperliche Ertüchtigung. Die Altvorderen hätten von Leibeszucht gesprochen, die Aufgeschlossenen von Sport.

Im Blick hatte der Oberschullehrer vor allem die Fitness der männlichen Schuljugend. Als Artillerieoffizier wusste er um die Bedeutung von Kraft, Ausdauer, Stehvermögen, Geschicklichkeit, Willen und Entschlusskraft in der Rekrutenschule. Zu Beginn seiner Tätigkeit liess Max Rudolf seine Klassen oft im Freien turnen, lief bei Waldläufen frisch voran. Turnlokale standen in der Alten Trotte und in der Scheune des Restaurants Frohsinn zur Verfügung, allerdings nur improvisierte. Deshalb machte sich der Oberschullehrer für den Bau der ersten Turnhalle mit Geräteraum, Garderobe und Duschen neben dem Gemeindehaus, in der alten Tapetenfabrik, stark. Bis zur Einweihung 1957 plante und baute Birmenstorf nach den Vorgaben der Eidgenössischen Sportschule in Magglingen.

Gleichzeitig stemmte sich Max ­Rudolf, wie alle konservativen Kräfte im Dorf, unterstützt von den beiden Turnvereinen, vehement gegen die Gründung eines Fussballclubs in Birmenstorf. Sie hielten das «Ballgestüpfe» für eine primitive Erscheinung. So hat Birmenstorf bis auf den heutigen Tag keinen Fussballverein.

Fortführung der Familien­tradition
Max Rudolfs Bestreben wurde durch zweierlei erleichtert. Zum einen legten bereits seine Vorgänger Valentin Janett und Rudolf Meier Wert auf eine gute körperliche Verfassung ihrer Oberschüler. Zum anderen teilten auch sein Vater und Grossvater seine Werte. Vater Max Heinrich Rudolf unterrichtete in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Dorfschullehrer in Bottenwil. Ebenfalls im Bezirk ­Zofingen, allerdings in Vordemwald, war Grossvater Heinrich Rudolf tätig, der im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts eine eigentliche Lehrerdynastie begründet hatte, die drei Generationen andauern sollte.

Grossvater Heinrich Rudolf gehörte mit Jahrgang 1854 zu den 43 Aargauern, die vor 150 Jahren zur allerersten Lehrer-Rekrutenschule in Basel einrückten. Insgesamt wurden dort 435 ausgebildete Lehrer aus der ganzen Deutschschweiz versammelt. Das Eidgenössische Militärdepartement versprach sich viel von der gesonderten militärischen Ausbildung der Junglehrer. Sie sollten in ihren Klassen die körperliche Ertüchtigung vorantreiben und erste militärische Kenntnisse vermitteln. Bis 1891 waren es 4135 junge Männer, die in ­Basel, Bern und vor allem in Luzern eine solche Lehrer-Rekrutenschule durchliefen.

Mitte der 1930er-Jahre liess der Birmenstorfer Oberschullehrer Rudolf Meier (1912 – 2001) die Jahrgänge 1920 bis 1923 vor dem Schulhaus der Grösse nach geordnet in Viererkolonne antreten. Marschübungen sollten Disziplin und körperliche Tüchtigkeit fördern. Rudolf Meier dichtete und komponierte zehn Jahre später das Birmenstorfer Lied. (Bild: Sammlung und Archiv Birmenstorf)

Schwerpunkt Turnen
Die Grundausbildung dauerte lediglich sieben Wochen, schliesslich sollten die Lehrer möglichst rasch wieder in der Schulstube stehen. Deshalb war das Programm gedrängt. Von den knapp 300 Ausbildungsstunden lag der Schwerpunkt beim Turnen und bei der Turnmethodik. Diesen «Soldatenschule» genannten Fächern gehörte ein Drittel der Zeit. Die Ausbildung am eben eingeführten Vetterli-Gewehr nahm gut 40 Stunden in Anspruch. Terrainlehre, Kartenlesen und Distanzenschätzen vertieften die jungen Männer ganz praktisch auf Märschen und bei Gefechtsübungen. Alles in allem gehörte zeittypisch viel Drill dazu, ob im inneren Dienst oder beim Exerzieren.

Die Lehrer-Rekrutenschulen gehörten zur Reform, die der Aargauer Bundesrat Emil Welti (1825 – 1899) einführte. Seit 1866 Mitglied des Bundesrats und hauptsächlich mit militärischen Fragen befasst, liess der Zurzibieter den Zustand der Schweizer Armee umfassend überprüfen. Das Ergebnis der Untersuchung ernüchterte Parlament und Bundesrat gleichermassen. Die damit betrauten Generäle Guillaume Henri Dufour und Hans Herzog hielten vor allem das kantonale System für kompliziert und unflexibel. In den Anfängen des Bundesstaats blieb das Militärwesen nämlich weitgehend eine kantonale Angelegenheit. Nicht wenige Kantone missachteten eidgenössische Vorgaben zur Zahl der Wehrmänner, zu Formationen, Funktionen, Waffen und Munitionsbestand.

Indirekter Eingriff des Bundes
Bundesrat Welti erkannte zudem, dass eine siebenwöchige Rekrutenschule zu kurz war, um kriegstaugliche Soldaten auszubilden. Deshalb setzte er bei der körperlichen Ertüchtigung der Knaben in den Volksschulen an. Die Aarauer Historikerin Claudia Aufdermauer fasst zusammen: «Nach Ansicht von Welti sollten die Volksschulen […] nicht zu Militärschulen gemacht und keine neuen Lehrfächer eingeführt werden. Vielmehr sollte das Bewusstsein der Lehrer für die Thematik geschärft werden und die körperliche gymnastische Bildung mit der geistigen parallel gehen. Das Marschieren, die Stellungen und die Formationen lerne ein Knabe spielender als ein 20-jähriger Rekrut. Und wie solle man einem Knaben im Natur- und Landeskunde-Unterricht nicht dazu anleiten, ‹seinen heimatlichen Boden so zu betrachten, wie er es als künftiger Wehrmann tun soll?›» Tatsächlich fehlte der Turnunterricht jener Jahre in der kurzen seminaristischen Lehrerausbildung.

Kletterstangen allenthalben
Zurück zu Heinrich Rudolf: Er wandte das in Basel Erlernte an der Oberschule von Vordemwald an und schulte die männliche Schuljugend auch körperlich, damit sie später ihre Rekrutenschule bestehen konnte. Somit glückte der eidgenössische Eingriff in das eigentlich kantonale Schulwesen. Auf diesem Weg kam einerseits der Turnunterricht in den Stundenplan der Gemeindeschulen, andererseits gelangten die Reck- und Kletterstangen auf den Turn- oder Pausenplatz. Das sollte für bisher über 100 Jahre so bleiben.

So liess sein Enkel Max Rudolf, der eingangs erwähnte neue Oberschullehrer in Birmenstorf, seine Zöglinge von 1952 bis 1991 nicht nur Marschübungen absolvieren, sondern nach jeder Turnstunde auch an der Stange klettern. Deshalb hatten seine Schüler beim Sporttest an der militärischen Aushebung in Baden entsprechenden Erfolg. Das war den dortigen Militärsportleitern bekannt, gingen sie doch davon aus, schnelle Kletterer kämen selbstverständlich aus Birmenstorf. Aber das ist alles Geschichte. Statt mit Stangenklettern wird an der Rekrutierung heute mit «Planks» überprüft, ob die Rumpfstabilität stimmt.