Die Rolle der Peers in der Genesung

Krisen durchleben und Er­fahrungen nutzen, um anderen in ähnlichen Situationen zu helfen, dafür stehen die Genesungsbegleiter.
Martin Bommeli arbeitet als Peer. (Bild: isp)

Brugg | Windisch – «Ich bin sehr christlich in einer Freikirche aufgewachsen. Beide Elternteile arbeiteten für diese Kirche, die sich im gleichen Haus befand, in dem wir lebten», erzählt Martin Bommeli. Ab dem siebten Lebensjahr erlebte er sexuelle Übergriffe, im Lauf der Jugend kamen zahlreiche weitere traumatische Erlebnisse hinzu. «Zudem verlor ich innerhalb kurzer Zeit ­mehrere nahestehende Menschen durch Selbstmord, Krankheit oder Autounfall.»
All das führte bei Martin Bommeli zu einer starken Suizidalität, einer Borderlinestörung, einer posttraumatischen Belastungsfolgestörung sowie zu Depressionen. Trotz allen Widrigkeiten geht der 40-Jährige heute erstaunlich gefasst mit seiner Lebensgeschichte um. Und er hätte nie im Traum gedacht oder zu hoffen gewagt, dass seine Erkrankungen und vermeintlichen Defizite dereinst gefragt sein würden. Er hat in einer Weiter­bildung gelernt, seine persönlichen Erfahrungen mit der eigenen Erkrankung zu reflektieren, diese als Ressource einzusetzen und nun sein ­Wissen zu erweitern und für andere Menschen einzusetzen. Heute arbeitet Martin Bommeli als Genesungs­begleiter, auch Peer genannt. Solche Begleiter arbeiten in verschiedenen Bereichen wie Kliniken, Selbsthilfegruppen, sozialen Einrichtungen oder in der Gemeinde.
«Ich war einige Jahre in Selbst­hilfegruppen aktiv und durfte für Selbsthilfe Aargau bei Workshops mitwirken. Dort erhielt ich den Tipp, dass bei den Psychiatrischen Diensten Aargau (PDAG) in Windisch regelmässig ein Trialog stattfinde», sagt Martin Bommeli. Ein monatliches Treffen zwischen Angehörigen, Betroffenen und Fachpersonen, um sich zu bestimmten Themen auszutauschen. «Bei diesem Trialog lernte ich einen Peer kennen, der mir das Konzept erklärte. Das fand ich sehr spannend, weshalb ich dann einen Schnuppertag absolvierte», so der Genesungsbegleiter weiter.

Persönliche Erkenntnisse
Martin Bommeli ist seit Anfang dieses Jahres bei den PDAG fest angestellt, zuvor absolvierte er zwei Praktika. «Während der Ausbildung zum Peer habe ich gelernt, meine persönlichen Erfahrungen mit psychischen Krisen gezielt und reflektiert einzusetzen, um andere Menschen in ähnlichen ­Situationen zu unterstützen. Ich konnte meine Sichtweise erweitern und besser verstehen, wie vielfältig die Wege zur Genesung sein können», so Martin Bommeli. Besonders wertvoll sei dabei die Erkenntnis gewesen, dass Recovery ein individueller Prozess sei, der Geduld und Offenheit erfordere. «Ausserdem lernte ich, Grenzen klar zu erkennen und auf Selbstfürsorge zu achten, um nachhaltig als Peer arbeiten zu können», erzählt Martin Bommeli.
Martin Bommeli begleitet seither Menschen in der Klinik und unterstützt sie, Hoffnung und Orientierung zu finden. Seine Aufgabe besteht darin zuzuhören, Verständnis zu zeigen und Mut zu machen, um eigene Wege zur Genesung zu entdecken. Er teilt dabei punktuell seine eigenen Erfahrungen, um Vertrauen und Zuversicht zu vermitteln. Wichtig sei ihm, dass er niemandem Lösungen vorgebe, sondern Raum für persönliche Entscheidungen und Erkenntnisse schaffe.
«Die Arbeit als Genesungsbegleiter gibt mir Sinn und Erfüllung, weil ich aus meinen eigenen schwierigen Erfahrungen etwas Positives und Hilfreiches für andere Menschen schaffen kann», erklärt Martin Bommeli. «Sie ermöglicht es mir, authentisch zu sein und auf eine sehr ehrliche Weise mit Menschen in Kontakt zu kommen. Gleichzeitig reflektiere ich meine eigene Entwicklung und festige so meine persönliche Stabilität», führt der PDAG-Mitarbeiter aus.
Es gibt spezifische Ausbildungen für Peers. Schweizweit existieren ­einige Weiterbildungen von unterschiedlichsten Anbietern. Und jeder kann ein Peer werden, wenn er persönlich selbst über Krankheits- und Therapieerfahrung verfügt und zwischenzeitlich wieder genesen ist. Aber man sollte achtsam sein, denn Peers sind keine Therapeuten und müssen die Grenzen ihrer Rolle kennen, um ­sicherzustellen, dass sie nicht in therapeutische Praktiken eingreifen. Die Arbeit als Genesungsbegleiter kann ausserdem emotional herausfordernd sein, vor allem wenn man mit schweren Fällen oder gar Rückfällen konfrontiert wird.
Grundsätzlich gilt, dass der Austausch mit jemandem, der ähnliche Erfahrungen gemacht hat, bei Patientinnen und Patienten dazu beitragen kann, das Stigma rund um psychi­-­sche Erkrankungen oder chronische Krankheiten abzubauen. Des Weiteren ist erwiesen, dass Menschen oft eher bereit sind, Behandlungsempfehlungen zu folgen, wenn sie von jemandem unterstützt werden, der ähnliche Herausforderungen überwunden hat. Ein Peer kann somit ein Gefühl der Gemeinschaft und der Zugehörigkeit schaffen.