Region – In einem Rebberg im Schenkenbergertal im August: Ein junger Neuntöter sitzt auf einem Apfelbaum und schwingt sich immer wieder in die Luft. Ab und zu, aber nicht immer, kehrt er mit einem winzigen Insekt im Schnabel auf seinen Ast zurück und verschluckt seine Beute. Sein Vater oder seine Mutter beobachten den Sprössling aus der Distanz.
Manchmal startet der Altvogel selbst zu einem Jagdflug und holt sich ein grösseres Insekt, einen Käfer oder eine Heuschrecke aus der Luft oder vom Boden. Dieses verspeist er selbst, denn sein Nachwuchs befindet sich in der Phase der Ablösung von den Eltern.
Er muss lernen, sich sein Futter selbst zu beschaffen. Der Altvogel zeigt im «Anschauungsunterricht» lediglich, wie man mit guter Flugtechnik an noch grössere und nahrhaftere Beute herankommt.
Neuntöter gehören wie alle Singvögel zu den Nesthockern. Diese schlüpfen blind und nackt aus dem Ei und werden während der Nestlingszeit von den Eltern im Nest gewärmt und gefüttert. Beim Neuntöter dauert diese Nestlingszeit etwa 15 Tage. Dann sind die Jungen flügge. Sie können das Nest verlassen und fliegen, wenn auch noch nicht in der vollendeten Art ihrer Eltern. Nun werden sie ausserhalb des Nests weitergefüttert und nach rund zehn Tagen langsam «entwöhnt». Diese Phase dauert bei den Neuntötern etwa 22 Tage, was im Vergleich mit anderen Nesthockern relativ lange ist.
Nur eine Brut pro Jahr
Die Neuntöter ziehen in den allermeisten Fällen nur eine Brut pro Jahr auf – mit vier, seltener bis zu sieben Jungvögeln. Andere Nesthocker wie Bachstelze, Hausrotschwanz oder zum Beispiel Eisvögel ziehen hingegen bis zu drei Jahresbruten auf. Sie stehen deshalb mehr unter Zeitdruck und können sich nicht so ausgiebig mit der Betreuung der Jungvögel beschäftigen.
Am Limmatspitz bei Gebenstorf zog ein Teichhuhnpaar vor einigen Jahren in einem Teich seine Jungen auf. Wie die Entenvögel, Taucher und Rallen gehören sie zur Kategorie der Nestflüchter. Die Küken können zwar nach dem Schlüpfen mit ihren kurzen Stummelflügeln noch nicht fliegen, jedoch bereits ab dem ersten Tag schwimmen und laufen. Sie bleiben meist noch wenige Tage im Brutnest. Dann werden sie während vier bis fünf Wochen von den Eltern behütet und gefüttert. Das ist nicht bei allen Nestflüchtern so. Junge Enten und Gänsesäger werden beispielsweise zwar von der Mutter noch geführt und bewacht, müssen sich aber ihre Nahrung von Beginn an selbst suchen.
Speziell bei den Teichhühnern ist: Auch sie ziehen pro Jahr zwei bis drei Bruten auf. Die älteren Geschwister der ersten Brut helfen dann bei der Fütterung und der Betreuung der Zweit- und der Drittbrut, übernehmen also quasi die Rolle der Eltern, um diese zu entlasten.
Bei den meisten kleineren Vogelarten, egal, ob sie im Brutgebiet überwintern oder in den Süden ziehen, koppeln sich die Jungvögel im Herbst von ihren Eltern ab, und die Familienverbände lösen sich auf. Im darauffolgenden Jahr übernehmen diese Jungvögel bereits selbst eine Elternrolle. Bei grösseren Vögeln wie Kranichen und Störchen dauert es länger, bis sie geschlechtsreif sind und selbst brüten können.
Junge Kraniche fliegen im Herbst im Familienverband in die Überwinterungsgebiete und im Frühjahr meist wieder gemeinsam zurück ins Brutgebiet. Kraniche brüten erst im Alter von drei bis fünf Jahren. Ähnlich verhält es sich mit jungen Mauerseglern. Sie kommen zwar wieder zurück in ihr Brutgebiet, begleiten aber das Brutgeschehen ihrer Artgenossen in den ersten zwei Lebensjahren als sogenannte Vorbrüter. Der Rekordhalter diesbezüglich ist der Bartgeier. Er benötigt sechs bis sieben Jahre, bis sein Federkleid voll entwickelt und er geschlechtsreif ist und brüten kann.