«Wir haben uns ganz neu kennengelernt»

Italienisch oder Deutsch? Als junge Mutter entschied sich Graziella Zulauf (93), ihre Kinder einsprachig zu erziehen. Mit überraschenden Folgen.
Christina (64) und Graziella (93) im Garten des Familienheims in Nussbaumen. (Bild: is)

Graziella Zulauf-Huber, im Buch, das Sie gemeinsam mit Ihrer Tochter Christina und deren Italienischlehrerin Alessandra geschrieben haben, geht es um Muttersprache. Aus welchen Gründen haben Sie einst entschieden, mit Ihren Kindern Schweizerdeutsch und nicht Italienisch zu sprechen?
Damals, Ende der 1950er-Jahre, herrschte die Meinung vor, dass Kinder nirgendwo richtig zu Hause sind, wenn in einer Familie mehrere Sprachen gesprochen werden. Wir lebten in der Schweiz. Also fand ich schliesslich, wir sprechen Schweizerdeutsch. Und heute sehe ich, es war doch ein Blödsinn! Ich hätte zu meinem Mann sagen sollen: Ich rede mit den Kindern Italienisch, und du sprichst mit ihnen Schweizerdeutsch. Wahrscheinlich war ich einfach noch nicht reif, als ich Mutter wurde. Ich ergab mich. Heute würden die Frauen anders reagieren.

Damals stimmte das für Sie jedoch.
Ja. Und es dauerte dann auch viele Jahre, bis meine Tochter Christina das als Problem empfand.

Ihre Tochter Christina war schon fast sechzig, als sie sich auf die Suche nach ihrer Muttersprache, dem Italienisch, machte. Private Briefwechsel und auch die Familiengeschichte zeichnen diesen Weg im Buch nach. 
Eines muss ich direkt loswerden: Das hätte ich am Anfang niemals gedacht! In den Briefen sagten wir uns vieles, was vorher unausgesprochen geblieben war. Es war für mich ein grosses Erlebnis, dass ich meine Tochter so mit ganz anderen Augen wahrnehmen konnte. Sie kam näher zu mir. Und dann hiess es plötzlich: Lasst uns doch ein Buch daraus machen. Zuerst war ich etwas erstaunt und fand: Meine Briefe sind nicht zur Veröffentlichung gedacht. Aber Christina und Alessandra haben mich überzeugt. Nun stimmt es für mich auch.

Haben Sie Ihre Mutter ebenfalls durch das Buch neu entdeckt, Christina Le Kisdaroczi?
Absolut. (Zu ihrer Mutter) Ich kenne dich jetzt viel mehr über die Mutterrolle hinaus, auch als Frau. Wie du bist und wie du übers Leben nachdenkst. Du warst ja vorher, in diesem «schweizerdeutschen» Denken, oft auch eine Mutter, die mir sagte, was ich zu tun hatte. Als wir begannen, in Italienisch miteinander zu kommunizieren, wurde der Dialog tiefer. Plötzlich merkte ich, was für eine interessante Frau du bist. Auch die Fotoalben, die ich als Kind gar nicht so recht einordnen konnte – unsere ganze Familiengeschichte wurde plötzlich lebendig. Wir konnten auf Augenhöhe darüber sprechen. Da tat sich für mich eine ganze Welt auf, und es war, als bekäme ich eine zweite Mutter. Das sind zwei ganz verschiedene Mutterfiguren.

Sie beschreiben den Moment eindrücklich im Buch, als sie gemeinsam in die Ferienwohnung im Tessin fahren und ankündigen: «Ab jetzt rede ich nur noch Italienisch mit dir!» Was löste das in Ihnen beiden aus?
Graziella: Ich hatte eine riesige Freude, als Christina mir ihren Wunsch mitteilte. Denn damit gab sie mir die grosse Chance, etwas wieder gutzumachen. Ich nahm das ernst. Im Hinterkopf dachte ich an meine eigene Mutter. Sie hätte sicher grosse Freude gehabt, dass sich Christina innerlich von dieser Sprache doch angezogen fühlte.

War das nicht seltsam, nach fast sechzig Jahren plötzlich in einer anderen Sprache zu kommunizieren?
Christina: Ich wusste, es war etwas völlig Absurdes, in unserem Alter plötzlich den Schalter umzulegen. Sehr seltsam. Und ich sprach wirklich schlecht Italienisch. Bei mir kamen so simple Sätze heraus, und meine Mutter konnte mir immer eloquente Antworten geben. (Beide lachen.) Das war sehr anstrengend für mich. Ich weiss noch genau, wie du mir den «Congiuntivo» erklären wolltest, Mama. Die Grammatik beherrschte ich überhaupt nicht.

Graziella: Das hat auch sein Gutes: Man sagt dann nur das Wesentliche, weil einem der Wortschatz fehlt.

Können Sie die damaligen Beweggründe Ihrer Mutter heute nachvollziehen, Christina?
Ja. Damals spielten sicher auch die Umstände mit. Die Italiener waren halt die ersten Gastarbeiter in der Schweiz, sie hatten einen sehr schweren Stand in dieser Gesellschaft. Sie waren die «Tschinggen». Das habe ich in der Primarschule in Baden oft erlebt: Manche Kinder wurden richtig geplagt von den Lehrpersonen. Ihnen wurde häufiger auch nicht zugestanden, dass sie gute Leistungen bringen können.

Wie gingen Sie innerhalb Ihrer Familie mit diesem Stigma um?
Graziella: Innerhalb der Familie meines Mannes waren alle Deutschschweizer. Dort sah man mich als Exotin an. Nur mein Schwiegervater war eine Ausnahme. Er mochte mich vom ersten Tag an gern und verstand mich. Man darf nicht vergessen, dass der Zweite Weltkrieg gerade zu Ende gegangen war – alte Ressentiments kamen hervor. Die Italiener waren die, die sich mit den Deutschen zusammentaten. Es gab viele Vorurteile. Ich glaube, mit der zunehmenden Einwanderung hat die Schweiz aber viel gelernt im Umgang mit Ausländern. Für italienische Kinder gab es damals die «Sonntagsschule».

War das in der Familie nie ein Thema?
Christina: Heute sind das die Kurse in heimatlicher Sprache und Kultur. Ich finde das eine sehr gute Sache. Aber es war bei uns nie ein Thema. Als Kind empfand ich, dass ich Italienisch, die Sprache meiner Mutter, in der Familie nicht geschenkt bekommen habe. Daher wollte ich es dann später in der Schule auch nicht mehr lernen. Ich war da etwas radikal. Das Bedürfnis nach der Sprache meiner Mutter, die letztlich auch meine Identität veränderte, kam erst viel, viel später. Ich nenne es im Buch meine «Casa Lingua», das Haus der Sprache.

Graziella: Relativ spät wurde ich ja dann noch Italienischlehrerin. In meinen Kursen erzählten mir die Menschen sehr viel aus ihrem Leben. Und oft hörte ich, dass die Mutter-Tochter-Beziehung angespannt war. Das ist wie ein Paravent davor, man zeigt nie richtig sein wahres Gesicht. Für Christinas beide Brüder war das Ganze kein Problem. Deshalb schätzte ich es sehr, dass sie sich mit ihrem Willen durchsetzte und doch noch Italienisch lernte. 

Christina: Dieser Prozess dauerte viele Jahre, aber dann wurde der Wunsch umso heftiger. Als bräche ein Damm auf. Schliesslich wurde es sogar eine Sucht. Ich habe viel auf Italienisch gelesen, mir sämtliche Literatur reingezogen.

Wie haben Sie die Sprache dann schliesslich gelernt?
Nach dieser gemeinsamen Woche im Tessin setzte ich meinen Plan um. Ich war ab und zu eine Woche in Mailand. Dort lernte ich auch meine Lehrerin, Alessandra, kennen. Bald nahm ich Privatunterricht bei ihr. Via Skype arbeiteten wir einmal pro Woche miteinander. Irgendwann wollte ich besser schreiben lernen und fing an, Texte per Mail an sie zu senden. Und irgendwann schickte ich auch meiner Mutter so einen Text – als Brief …

Graziella: Ich bin völlig «antik» in dieser Beziehung! (Lacht.)

Christina: Meine Mutter antwortete mir per Post, ich scannte die Briefe ein und leitete sie Alessandra weiter. Mit der Zeit schrieb ihr Alessandra auch direkt. So entwickelte sich der Kontakt. Alles auf Italienisch.

Das Buch ist zweisprachig. Haben Sie Ihre Briefe selber übersetzt?
Graziella: Ich habe versucht, meine eigenen Briefe ins Deutsche zu übersetzen. Aber bei der Umsetzung gibt es so viele Feinheiten. Ein Satz kann völlig anders herauskommen, als er gemeint war. Übersetzerin Pia Todo­rovic hat das glänzend gemacht.

Christina: Sie hat zuerst auch meine Texte übersetzt. Meine Sprache klang mir auf Deutsch aber zu simpel, das passte für mich nicht. Also habe ich das meiste no chmal geschrieben. Ein Grund, das Buch auch auf Deutsch zu übersetzen, war, dass meine Kinder kein Italienisch können. Aber man soll das Buch auch hier lesen können, denn die Handlung spielt ja grossteils hier.

Wie sprechen Sie denn mit Ihren eigenen Kindern?
Schweizerdeutsch. Beide waren ja schon ausgezogen, als das Thema Italienisch bei mir hochkam. Mein Sohn ist mit einer Behinderung geboren. Für ihn wäre es sehr gut gewesen, zweisprachig aufzuwachsen, weil er Schwierigkeiten hat, Sprachen zu lernen. Meine Tochter kann sehr gut Englisch. Mein jetziger Ehemann stammt aus Ungarn – aber seine Kinder können auch kein Ungarisch. (Lacht.) Sie sehen: Es ist überall ein Thema. Auch meine Italienischlehrerin Alessandra sagte, sie kenne viele Leute, Secondos, mit ähnlichen Geschichten, die aufgrund fehlender Kenntnisse der Muttersprache nicht an ihre Herkunft anknüpfen können.

Alessandra ist die dritte Stimme im Buch – sozusagen die Aussensicht.
Christina: Uns alle verbindet die Liebe zur italienischen Sprache. Im Buch sind sozusagen drei verschiedene Italienisch enthalten: Mein einfaches, gelerntes Italienisch. Das heutige, sehr gewandte von Alessandra. Und Mamas, von 1943 konserviertes Italienisch. Wir liessen alle drei drin, denn das ist genau das Typische.

Graziella: Alessandra steht für die Jugend und das Leben!

Christina: Ich finde es schön, dass drei Generationen drin sind. Ich könnte fast Alessandras Mutter sein. Sie ist Teil unserer Familie geworden.

Im Buch sagen Sie, dass Sie in Italienisch anders fühlen als in Deutsch. Was meinen Sie damit, Christina?
Ich glaube, man hat in jeder Sprache eine etwas andere Identität, auch wenn man immer der gleiche Mensch ist. Es klingt eine andere Saite in einem drin. Die Stimmlage ist ja sogar unterschiedlich.

Graziella: Durch die heutige Vorherrschaft des Englischen, die unübersehbar ist, wird alles so uniform. Das ist falsch! Die verschiedenen Sprachen bringen doch Farbe in die Welt, es gibt nicht nur eine Farbe. Darum ist es wichtig, dass man diese Sprachen mit der eigenen Identität auch wahrnimmt.

In welcher Sprache fühlen Sie sich stärker daheim?
Christina: Im Deutschen. Das ist meine Sprache. Meine Erstsprache, nicht meine Muttersprache.

Graziella: Deine Vatersprache! (lacht.)

Christina: Mittlerweile fühle ich mich aber auch im Italienischen zu Hause. Dort bin ich fast so ein bisschen ein Sans-Papier, ohne Pass und mit weniger Rechten. Ich kann mich lediglich bemühen, dass mich die Menschen mit meinem Italienisch akzeptieren und nicht gleich beim ersten Fehler ins Englische wechseln. Es ist ein Gefühl von verstärkter Zugehörigkeit.

Wie lernten Sie eigentlich Deutsch, Graziella?
Ich war noch nicht 14, als ich in die Schweiz kam. Kurz darauf starb meine Mutter, mit 45. Ich konnte kein Wort Deutsch, obwohl mein Vater Schweizer war. Wir hatten daheim in Mailand immer Italienisch gesprochen. In Zürich wollte man mich in die Oberschule schicken, weil ich kein Wort konnte. In Mailand war ich auf dem Gymi! Ich sagte zu meinem Vater: «Wenn du das bewilligst, werde ich keinen Fuss mehr in eine Schule setzen.» In der Sek lernte ich sofort Deutsch.

Ihre Lesung am 7. September in Nussbaumen wird von der Politikerin Marianne Binder-Keller moderiert. Wie kam das?
Christina: Wir haben zusammen die Bez Turgi besucht. Vom ersten Tag an waren wir enge Freundinnen. Marianne kam auch viel mit uns ins Tessin in den Ferien. Sie hat meinen ganzen Weg und auch den Prozess des Buches mitbekommen. Ich bin gespannt, welche Fragen sie uns stellt!

Mittwoch, 7. September, 19 bis 20.30 Uhr
Dorfbibliothek Obersiggenthal