«Wir unterstützen die Selbständigkeit»

Pro Senectute setzt sich für ältere Menschen ein. Dass das Angebot weit mehr als Kurse umfasst, ist Stellenleiterin Karin Bösch wichtig.
Ist engagiert für die Pro Senectute im Einsatz: Karin Bösch. (Bild: zvg)

Karin Bösch, warum braucht es ein spezifisches Angebot für Menschen Ü60?
Weil sich, je nach Alter und Gesundheitszustand, die Bedürfnisse und Anforderungen der Teilnehmenden verändern.

Velotouren, Sprachkurse, Yoga: Was unterscheidet das Kursangebot der Pro Senectute von Anbietern mit altersmässig breiterem Zielpublikum?
Unsere Kurse sind speziell für Menschen Ü60 angelegt, weil das Lerntempo der Altersgruppe angepasst ist. Beim Erlernen einer Fremdsprache genügt in jungen Jahren in der Regel, dass ein Wort einmal gelesen oder gehört wird und dann bereits im Gedächtnis verankert ist. Ab fünfzig Jahren muss ein Wort drei bis fünf Mal gelesen oder gehört werden, bis es «sitzt». Das kann ich auch aus eigener Erfahrung sagen (lacht).

Bei den Bewegungskursen wird ebenfalls auf Alter und Gesundheitszustand Rücksicht genommen. So bietet die Pro Senectute zum Beispiel normale Yogakurse und auch Yoga auf dem Stuhl an, für Teilnehmende, denen es schwerfällt, auf dem Boden zu liegen und wieder aufzustehen. Unser wichtigster Kurs ist vermutlich «Sicher stehen, sicher gehen». Dies ist ein Gleichgewichtstraining für ältere Menschen. Jeder Sturz beziehungsweise Oberschenkelhalsbruch, der so vermieden werden kann, spart viel Leid und Kosten. Speziell ist auch, dass unsere Kurse vorwiegend tagsüber stattfinden, da wir die Erfahrung gemacht haben, dass ältere Menschen nicht gern am Abend im Dunkeln unterwegs sind.

Wie unterstützt die Pro Senectute ältere Menschen über das Kurs­angebot hinaus?
Unsere kostenlose Sozialberatung hilft Menschen ab sechzig Jahren oder ihren Angehörigen in ganz vielen Fragen, die das Älterwerden mit sich bringt: Vorsorgedokumente, Sozialversicherungen, Umzug ins Heim, Demenzberatung.

Das Hauptanliegen von Pro Senectute ist, dass ältere Menschen würdevoll und selbständig so lange wie nur möglich in der eigenen Wohnung leben können. Wir unterstützen sie in Bereichen, die sie selbständig nicht mehr gut bewältigen können, so zum Beispiel mit der Hilfe im Haushalt. Da jede Woche die gleichen Mitarbeitenden im Einsatz sind, entsteht so über die Jahre ein Vertrauensverhältnis. Unser Mahlzeitendienst liefert einmal in der Woche die bestellten Mahlzeiten nach Hause. Die Kunden können aus ganz vielen Menüs diejenigen aussuchen, die ihnen schmecken.

Unsere Mitarbeitenden füllen jedes Jahr über 2000 Steuererklärungen aus, eine enorme Erleichterung für viele Seniorinnen und Senioren. Wenn jemand monatliche Unterstützung wünscht, können wir unseren administrativen Dienst anbieten. Ein Mitarbeitender geht mindestens einmal pro Monat beim Kunden vorbei, um ihn beim Ausfüllen von Zahlungsaufträgen, Rückforderungen von Krankenkassen und sonstigen Behördenkontakten zu unterstützen. Und seit letztem Jahr haben wir auch einen Treuhanddienst im Angebot – für Kundinnen und Kunden, die möglichst wenig administrative Dinge und Rechnungen selbst bearbeiten möchten. Voraussetzung für alle Dienste ist jeweils die noch bestehende Urteilsfähigkeit der Kunden.

Warum ist Ihrer Meinung nach die Pro Senectute ein wichtiger Bestandteil einer Gesellschaft?
Der Anteil an über 60-jährigen Menschen in der Bevölkerung steigt stetig an. Obwohl viele Pensionierte noch sehr aktiv sind, sehen wir einen Anstieg der Einsamkeit in dieser Altersgruppe. Familien sind oft über viele Länder verteilt. Die älteren Personen wohnen allein und sind nicht mehr in die Familien der Kinder eingebunden. Die Beratung zu Altersfragen bei Pro Senectute ist niederschwellig und kostenlos. Vielen Klienten fällt es leichter, ein Gespräch bei uns in Anspruch zu nehmen, als beim Sozialdienst der Gemeinde vorstellig zu werden.

Sie leiten seit vier Jahren die Beratungsstelle für den Bezirk Baden. Was fasziniert Sie an dieser Arbeit?
Der Gedanke «Jeder Handgriff, den ich für Pro Senectute mache, kommt irgendjemandem zugute» ist der Grund, warum ich für diese tolle Stiftung tätig bin. Ich erlebe jeden Tag, wie dankbar ältere Menschen für unsere Angebote sind. Die Kontakte, die sich an Mittagstischen und in Sportgruppen ergeben, sind spannend. Ich habe noch keine Sekunde bereut, den Schritt von einer umsatzgeprägten Unternehmung in eine Stiftung gemacht zu haben. Am tollsten finde ich, dass es trotz anderslautenden Aussagen immer noch ganz viele Personen im Aargau gibt, die «nicht für das Portemonnaie, jedoch für das Herz» einen Einsatz in der Freiwilligenarbeit bei Pro Senectute leisten! Ohne dieses Engagement würde die Gesellschaft nicht funktionieren.

Wo in unserer Gesellschaft sehen Sie Bedarf für weitere Unterstützung von älteren Menschen?
Ich denke, es müsste viel mehr erschwingliche Wohnformen für ältere Personen geben. Niemand möchte ohne Pflegebedarf ins Altersheim ziehen. Aber Alterswohnungen sind häufig sehr viel teurer als die Wohnung, welche die Seniorinnen und Senioren seit langem bewohnen. Trotz AHV und Pensionskassen erleben wir täglich in den Beratungen, dass viele ältere Menschen am Existenzminimum leben, und bei grösseren Ausgaben, die vielleicht aus gesundheitlichen Gründen anfallen, in Bedrängnis geraten. Auch gibt es in den wenigsten Gemeinden Fahrdienste für nicht ärztliche Fahrten, und Taxis sind häufig zu teuer. So wird es, wenn der öffentliche Verkehr nicht mehr benutzt werden kann, schwierig, mobil, unabhängig und selbständig zu bleiben.