Robert Hunger-Bühler, im Stück «Anne-Marie, die Schönheit», spielen Sie eine Frau …
(unterbricht) … das habe ich nun wirklich schon hundert Mal den Medien erzählt. Ich bin Schauspieler, ich kann ein Himmelsschaf oder Totentrompeten darstellen. Heutzutage kommt es nicht mehr auf das Geschlecht an. Das ist nicht unüblich, um Distanz zu einer Figur zu schaffen. Vielleicht möchten Sie etwas über das Stück wissen, über Anne-Marie?
Gerne.
Yasmina Rezas Buch ist die unglaublich vielfältige und berührende Schilderung einer Frau, die sich nicht beklagt. Die zufrieden ist mit ihrem Leben. Jeder im Theater will doch ein Star werden. Aber Anne-Marie ist mit sich und ihrem Leben im Reinen, auch wenn sie nie die grossen Rollen bekam und ihr Leben lang im Schatten des Scheinwerferlichts stand. Das Stück ist, so gesehen, auch eine Hommage oder gar eine Liebeserklärung an die Schauspielerei. Ein starkes Votum in der heutigen Zeit, in der Kunst immer mehr unter die Räder kommt.
Das Schauspielhaus Zürich lehnte das Stück ab mit der Begründung, eine Frau dürfe nicht von einem Mann dargestellt werden.
Es hiess damals, das sei nicht mehr zeitgemäss.
Warum stehen Sie der Genderthematik kritisch gegenüber?
Diese Diskussion ist für mich eine modische Erscheinung. Diversity gibt es schon viel länger. Schon in den griechischen Tragödien oder bei Shakespeare wurden Frauen von Männern dargestellt. Unser Beruf lebt von der Verwandlung, das ist die Freiheit der Kunst. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass ich als Mann die weibliche Figur nicht denunziere oder lächerlich mache.
Wie sind Sie als Anne-Marie diese Herausforderung angegangen?
Als ich mich zum ersten Mal im Rock im Spiegel sah, durchfuhr es mich wie ein Blitz: Ich sah meine Mutter. Von da an wusste ich, dass es mir gelingen würde, die alternde Schauspielerin zu verkörpern, ohne mich schminken und bewegen zu müssen wie in einer Travestieshow. Ich trage zwar Frauenkleider, bewege mich aber wie ein Mann und spreche mit einer männlichen Stimme. Viele Zuschauer sagen mir, dass man nach zehn Minuten schon vergisst, ob ein Mann oder eine Frau auf der Bühne steht. Es ist einfach ein Mensch.
Autorin Yasmina Reza hat ausdrücklich gewünscht, dass Sie die Rolle übernehmen. Kannten Sie sich?
Eine wunderbare Frau! Ich kannte Yasmina Reza nicht, aber sie mich offenbar schon, von einem Gastspiel in Paris. Als die Anfrage via Agentur kam, ob ich die Rolle der Anne-Marie übernehme, las ich zuerst das Stück und traf mich dann mit der Autorin in Paris. Sie kam auch zur Premiere in Freiburg. Man darf sagen, dass da eine Art Freundschaft entstanden ist. Es ist ja schon selten, dass sich die Autorin persönlich so stark macht. Meist läuft eine Besetzung über die Regie.
Wie oft haben Sie die Anne-Marie inzwischen schon gespielt?
Bestimmt über fünfzig Mal seit der deutschsprachigen Erstaufführung in Freiburg. Ich ging damit auf Tournee durch Deutschland, die Schweiz, durch Österreich und Südtirol. Nun mache ich eine zweite Etappe in der Schweiz. Ich freue mich sehr auf das Schweizer Publikum. Und ich bin gespannt auf das Kurtheater. Da war ich seit dem Umbau noch nicht.
Das Stück ist ein Monolog von eindreiviertel Stunden. Spielen Sie oft Monologe?
Eher selten. Aber wenn der Stoff stimmt, ist es eine wunderbare Sache. Mein erster war «Das letzte Band» von Samuel Beckett. Als Schauspieler brauche ich zwischendurch aber auch mal wieder Bühnenpartnerinnen oder Bühnenpartner.
Die Kritiker feiern Ihre schauspielerische Leistung. Was ist das Erfolgsrezept des Stücks?
Anne-Marie ist unverstelltes, hautnahes Theater, und die Biografie der Figur kann für jedes Menschenleben verlängert werden. Yasmina Reza hat etwas umgesetzt, das ich genial finde: Ihre Figur macht klar, dass Glücklichsein nicht unbedingt eine Kategorie des Erfolgs ist.