Simone Wiederkehr kann es immer noch kaum glauben: «Sowas hätte ich nie erwartet», sagt die Kindergärtnerin aus Wettingen. Mitte Januar hat sie auf der Plattform Gofundme.com eine Spendenaktion für ihre Freundin Vanessa Schuler ins Leben gerufen. Die Gotte ihres älteren Sohns ist mit Zwillingen schwanger und erhielt im Dezember die Diagnose Brustkrebs; der Tumor ist aggressiv und wächst schnell. Dazu kommt, dass Familie Schuler bereits zwei Kleinkinder (zwei und vier Jahre alt) hat – im Frühling werden die Eltern vier Kleinkinder haben. «Vor Vanessa und ihrer Familie stehen unendlich schwierige, seelisch belastende Monate», ist Simone Wiederkehr bewusst.
Was kommt danach?
Zwar unterstützen Angehörige und Freunde die Familie nach Kräften, und auch die Krebsliga hat wertvolle Informationen. Doch schon bald wird klar: Spätestens nach der Geburt der Zwillinge wird die Familie externe Hilfe benötigen. «Ich fing an zu recherchieren und fand heraus, dass die meisten Unterstützungsangebote privat bezahlt werden müssen», so Simone Wiederkehr. Die Leistungen von Spitex und Rotem Kreuz sind begrenzt.
Neben der Bewältigung der Krankheit kommen Sorgen über die finanzielle Belastung dazu. Können die Primarlehrerin und der Ingenieur mit einem Lohn ihre sechsköpfige Familie ernähren und sich zusätzlich Hilfe durch eine Nanny oder eine Putzfrau leisten? «Dann hatte mein Mann die Idee einer Spendenaktion», erzählt Simone Wiederkehr.
Familie Schuler ist überrascht von dem Vorschlag, willigt aber schliesslich ein. Die Lengnauer Fotografin Marlene Madianos steuert ein kostenloses Familienshooting für den Crowdfunding-Auftritt bei, der Vanessa und David Schuler fast ein wenig unangenehm ist. «Ich bin eher eine, die selber etwas schaffen will», sagt Vanessa Schuler. Doch die Ungewissheit, wie die Krankheit verläuft und vor allem, was nach der Geburt der Zwillinge auf sie zukommen werde, überzeugt sie schliesslich.
Wenige Tage später beginnt auf gofundme.com der Crowdfunding-Aufruf. Schon nach einigen Stunden ist das Spendenziel von 20 000 Franken fast erreicht, nach zwei Tagen ist doppelt so viel auf dem Konto, nach einer Woche haben über 650 Spenderinnen und Spender sagenhafte 65 000 Franken eingezahlt – und es gehen täglich weitere Beträge zwischen 20 und sogar bis 2500 Franken ein. «Diese grosse Anteilnahme ist sehr berührend. Es melden sich aber auch viele Menschen direkt und fragen, wie es mir geht und wie sie uns unterstützen könnten. Das ist sehr schön!», sagt Vanessa Schuler.
Gendefekt BRCA1
Die 34-Jährige ist im vierten Monat schwanger, als sie in der Achselhöhle einen geschwollenen Lymphknoten spürt. Nachdem man im Brust-Ultraschall etwas findet, wird eine Biopsie gemacht. «Obwohl ich versuchte, positiv zu sein, hatte ich kein gutes Gefühl», erzählt Vanessa Schuler. Zwei Tage später, Ende November, die Diagnose: Brustkrebs. Der Tumor ist aggressiv und wächst schnell. Für Schuler und ihren Mann David (33) ein Schock – plötzlich befindet sich die junge Familie mitten im Sturm.
Besonders bitter: Schon Vanessas Mutter war mit 44 an Brustkrebs erkrankt. Vanessa und eine ihrer Schwestern tragen den Gendefekt BRCA1, der ein erhöhtes Risiko bedeutet. «Die Ärzte hatten meiner Schwester und mir geraten, ab 40 häufiger zur Vorsorge zu gehen und dann möglicherweise präventiv beide Brüste amputieren zu lassen. Ich wollte zuerst ein drittes Kind und hätte die Operation danach gemacht. Ich hätte niemals damit gerechnet, dass es mich mit 34 schon treffen würde», sagt Vanessa Schuler heute.
Chemo schadet Föten nicht
Der Start der Chemotherapie muss wegen schlechter Blutwerte zweimal verschoben werden. Ende Dezember beginnt die Behandlung, im Therapieplan steht sechzehn Mal Chemo. Die grösste Angst gilt natürlich den Ungeborenen. Im zweiten Schwangerschaftsdrittel sind die Organe der Föten bereits ausgebildet, «sonst hätte ich mich womöglich für oder gegen die Schwangerschaft entscheiden müssen», ist Vanessa Schuler bewusst. Sie ist froh, dass ihr dies erspart blieb. Die Ärzte hätten ihr versichert, dass die Föten durch die Behandlung keinen Schaden nehmen. Zudem würden Schwangere die Chemo oft besser vertragen als nicht schwangere Frauen. Bis jetzt fühle sie sich – abgesehen von leichten Nebenwirkungen – recht gut, bestätigt Vanessa Schuler, die mittlerweile ihre Haare verloren hat. «Unser Alltag verläuft aber weitgehend normal. Wir hoffen einfach sehr, dass die Zwillinge gesund zur Welt kommen.» Es besteht sogar die Möglichkeit, dass sie spontan gebären kann, «denn auch meine beiden ersten Kinder habe ich ohne Probleme zur Welt gebracht», hofft sie.
Brustkrebs nicht tabuisieren
Die Geburt wird in der Mitte der Behandlungszeit erwartet. Wie es dann weitergeht, wissen die Schulers noch nicht. Zwei Wochen nach der Geburt geht die Chemo weiter, und Operationen werden folgen. «Es ist schwierig vorauszuplanen. Wir werden schauen, wie es den Neugeborenen geht», sagt die Primarlehrerin, die regelmässig per Ultraschall untersucht wird, «ein grosses MRI kann ich erst nach der Schwangerschaft machen.» Klar ist, dass die sechsköpfige Familie dann Hilfe und Unterstützung zu Hause braucht. «Dank dem Crowdfunding kann mein Mann einige Monate unbezahlten Urlaub nehmen und mich daheim unterstützen», sagt Vanessa Schuler. Mit der grossen Solidarität hatten die Eltern niemals gerechnet: «Wir sind unglaublich dankbar dafür.» Die baldige Vierfach-Mama hofft, dass sie trotz den Behandlungen und den vielen Terminen um ihre Kinder herum und auch für sie da sein kann: «Das ist für mich das Wichtigste, denn meine Kinder sind meine Kraftquelle.»
Simone Wiederkehr ist glücklich, ihre Freundin unterstützen zu können. «Sie ist eine starke Frau und eine tolle Botschafterin, indem sie ihre Krankheit auch öffentlich zeigt und nicht tabuisiert. Damit ist sie ein Vorbild für viele Frauen.»