Jedes Kind im deutschsprachigen Raum kennt die Geschichte von Anne Frank – zumindest in groben Zügen. Die deutschstämmige Jüdin versteckte sich in den Niederlanden jahrelang erfolgreich vor dem Zugriff der Nationalsozialisten. In ihrem Versteck führte sie ausführlich Tagebuch, das nach dem Krieg zu einem der wichtigsten historischen Dokumente wurde, das Einblick in die Schrecken jener Zeit gibt.
Etty Hillesums Geschichte gleicht jener von Anne Frank in vielen Punkten. Beide wurden von den Nationalsozialisten verfolgt, beide hielten ihre Erlebnisse in ausführlichen Tagebüchern fest, und beide kamen schliesslich in einem Konzentrationslager der Nazis um. Anstatt sich versteckt zu halten, engagierte sich Etty Hillesum aber erst im Judenrat Amsterdam – wo ihr die Arbeit zuwider war – und meldete sich anschliessend freiwillig für die «Soziale Versorgung der Aussiedler», sprich der zu deportierenden jüdischen Bevölkerung im Durchgangslager Westerbork.
Am Schicksal Anteil nehmen
Obwohl sie sich der Gefahr für ihre eigene Freiheit und ihr Leben stets bewusst war, wollte sie die jüdische Gemeinschaft in den Niederlanden, so gut sie konnte, unterstützen und Anteil an ihrem Schicksal nehmen.
Trotz ihrer aussergewöhnlichen Lebensgeschichte ist Etty Hillesum bis heute – vor allem im deutschsprachigen Raum – nur einem relativ kleinen Kreis von Leuten bekannt. Selbst in den Niederlanden interessierte sich nach dem Krieg jahrelang niemand für Etty Hillesums Tagebücher, in denen sie sowohl ihre eigenen Lebensumstände als auch jene der jüdischen Bevölkerung in den Niederlanden während der Nazi-Besatzung festhielt.
Erst 1981 – ganze 36 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs – wurde eine Auswahl ihrer Schriften erstmals einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Fünf Jahre später erschienen sämtliche Texte und Briefe der Niederländerin erstmals in der Originalsprache. Dank der Arbeit der Wettingerin Christina Siever liegt Etty Hillesums Gesamtwerk nun seit diesem Jahr in deutscher Sprache vor.
Intensive Auseinandersetzung
Die promovierte Linguistin Christina Siever hat die Tagebücher des rund 800 Seiten umfassenden Gesamtwerks von Hillesum ab 2015 ins Deutsche übersetzt und sich dabei intensiv mit deren Geschichte auseinandergesetzt. Einen ergänzenden Beitrag zu der Arbeit leistete Simone Schroth, die den umfassenden Schriftverkehr Etty Hillesums ins Deutsche übersetzte. «Wenn man sich so lang mit so persönlichen Texten befasst, beschäftigt man sich unweigerlich mit dem Menschen dahinter», weiss Siever aus eigener Erfahrung. So wurde die Wettingerin unverhofft zur Expertin für die Geschichte der niederländischen Tagebuchautorin, auch wenn sie noch nicht weiss, was sie mit dieser Expertise nun anfangen wird.
«Ich werde mich aber auf jeden Fall weiter mit Etty Hillesum beschäftigen. Sie war ein sehr interessanter Mensch, und ich habe es während der Übersetzung manchmal bedauert, dass ich sie nicht kennenlernen durfte», erklärt die Linguistin. «Schliesslich hat es Etty Hillesum irgendwie geschafft, sich eine positive Haltung zu bewahren und diese an ihre Mitmenschen weiterzugeben. Sie hat in ihren Schriften immer wieder betont, dass der Hass zwischen den Menschen und Völkern unbedingt überwunden werden müsse.»
Eine grosse Ehre
Die Lektüre betätigt, dass die niederländische Tagebuchautorin ein aussergewöhnlicher Mensch war. Deshalb empfand Christina Siever die Arbeit an Etty Hillesums Gesamtwerk als grosse Ehre. Dabei war die Übersetzung der Texte selbst oft alles andere als einfach: «Mir bereitete dabei vor allem der zeitliche Aspekt gewisse Schwierigkeiten, weil sich der Sprachgebrauch in den letzten achtzig Jahren verändert hat», gibt die Linguistin Einblick in ihre Arbeit. «Für die korrekte Übersetzung bestimmter Begriffe war deshalb ein umfassendes historisches Vorwissen zwingende Voraussetzung.»
Obwohl Christina Siever ihr Manuskript mit der Übersetzung von Etty Hillesums Tagebüchern schon vor zwei Jahren einreichte, erinnern sie aktuelle Nachrichten auch heute noch oft an die Niederländerin und deren Lebenseinstellung: «Wenn ich beispielsweise vom Krieg in der Ukraine lese, muss ich immer wieder an sie denken. Daran, dass man wegen dieser Aggression nicht alle Russen hassen sollte und dass die Dinge differenziert betrachtet werden müssen.» Und sie hofft, dass sich dank ihrer Übersetzung mehr Menschen mit der Geschichte und den Lehren Etty Hillesums befassen werden.
Die neu erschienene deutsche Ausgabe ihrer Tagebücher mit dem Titel «Ich will die Chronistin dieser Zeit werden» ist auf der Website des Beck Verlags unter chbeck.de zu finden.