Freitagabend im katholischen Pfarrsaal in Windisch. Gegen sechzig Sängerinnen und Sänger proben die «Missa Tre» des italienischen Barockkomponisten Giovanni Battista Bassani (1650–1716). Im Gottesdienst an Ostersonntag in der Windischer Marienkirche erklingt die Messe wohl zum ersten Mal überhaupt in der Schweiz – mehr als 300 Jahre nach der Publikation der Noten im Jahr 1709. Für die katholische Chorgemeinschaft Brugg-Windisch ist es die zweitletzte Probe vor der Hauptprobe, und noch nicht alle Partien sitzen hundertprozentig. Mitten im Kyrie, dem ersten Teil der Messe, winkt Dirigent Giuseppe Raccuglia ab, rollt mit den Augen und scherzt: «Oh, das war jetzt aber eine freie Interpretation der Noten!» Um gleich in bestimmtem Ton anzufügen «Bitte nochmals, vierstimmig, bei Takt 35.» Später legt er den Sängerinnen und Sängern ans Herz, ihre innere Energie für alle hörbar zu machen: «Dieser Schlussakkord, der muss doch einfach glühen!»
Organist mit dreizehn Jahren
Der 40-jährige Giuseppe Raccuglia wirkt seit 2014 als Organist und Chorleiter in Brugg und ist unterdessen Ressortleiter Kirchenmusik für den ganzen Pastoralraum Region Brugg-Windisch. Geboren und aufgewachsen ist er in Palermo auf Sizilien, wo er als Primarschüler in seiner Pfarrei im Kinderchor erstmals mit gregorianischen Chorälen in Kontakt kam und bereits mit knapp dreizehn Jahren als Organist im Einsatz war. «Ich habe als Knabe immer dem Organisten zugeschaut, was er machte. Mich faszinierte das dreimanualige Instrument mit den vielen Lichtern, Knöpfen und Pedalen. Und ich wollte wissen, wie die Orgel funktioniert.»
«Die Seele streicheln»
Die Orgel wurde zu Raccuglias Leben und Leidenschaft. Mehr noch, wie er präzisiert: «Ich habe der Orgel einen Teil meiner Jugend geopfert.» Während seiner Gymnasialzeit leistete er nicht nur in verschiedenen Kirchen Orgeldienst, sondern besuchte parallel dazu das Konservatorium. «Ich bin morgens immer um halb fünf aufgestanden, um alles unter einen Hut zu bringen.» Das Orgel- und Kompositionsstudium in Palermo schloss er mit Auszeichnung ab und wechselte später für das Masterstudium an die Musikhochschule in Freiburg im Breisgau. Er hat als Organist zahlreiche Preise gewonnen und gibt an seiner «Heimatorgel» in der katholischen Kirche Brugg regelmässig Konzerte. «Die Orgel hat für mich etwas Magisches», begründet er die Faszination für das Instrument, das ein ganzes Orchester ersetzen kann, aber auch feinste Stimmungen wiedergibt. «Es gibt Orgelregister, die mit ihrem Klang die Seele streicheln», sagt er lächelnd.
Sechs Messen an Ostern und Weihnachten
In den neun Jahren seiner Tätigkeit hat Giuseppe Raccuglia die Kirchenmusikpraxis im Pastoralraum Brugg-Windisch mit der Schola Gregoriana, der Chorgemeinschaft Brugg-Windisch, dem Franziskuschor Schinznach und seinen Orgelkonzerten stark geprägt und ihr zahlreiche neue Impulse verliehen. Das gilt besonders für das aktuelle Projekt. In den Gottesdiensten zu Ostern und Weihnachten erklingt jeweils eine von sechs wiederentdeckten Messen des italienischen Komponisten Giovanni Battista Bas-sani. Der Zyklus begann an Ostern 2022 und endet an Weihnachten 2024. Am kommenden Ostersonntag kommt die «Missa Tre» in der Marien-Kirche in Windisch zur Aufführung.
Die Noten konnte Raccuglia nicht einfach bei einem Musikverlag bestellen, weil von den Messen gar keine Partituren existieren. 1709 wurden sie nämlich nur in den Einzelstimmen veröffentlicht – auf insgesamt über 700 Seiten. Raccuglia muss deshalb die Messen mit allen Chor-, Solo- und Instrumentalstimmen von Grund auf Schritt für Schritt rekonstruieren, eine Riesenarbeit. «Ich enthülle 300 Jahre alte Musik», nennt er das lachend. «Ich finde diese Musik einfach einmalig», erklärt er sein Engagement für diese Sakralmusik aus dem frühen 18. Jahrhundert. Bassani habe sehr innovativ komponiert. Selbst Johann Sebastian Bach habe bei ihm Ideen geholt.
Schweizer Premiere
Ob die Messen von Bassani in Europa nach ihrer Publikation je aufgeführt wurden, liegt im Dunkel der Geschichte. Belegt ist hingegen, dass sie nach 1730 in den Jesuitenmissionen im Tiefland von Bolivien in Südamerika erklangen. Die Noten ruhten bis zur Wiederentdeckung durch Giuseppe Raccuglia in den Archiven. Die Aufführungen am Ostersonntag, an Weihnachten und an den Hochfesten des nächsten Jahres sind deshalb zweifellos Schweizer Premieren.
Ostersonntag, 9. April, 11 Uhr
Marien-Kirche Windisch