Den Blick öffnen für die Zukunft

Was die Zukunft angeht, sind Schulen ein grosses Ideenlabor. Doch wie gelingt es, die innovative Power für die Gesellschaft zu nutzen? Eine Spurensuche.
Begleiten die Schule Brugg auf dem Weg in die Zukunft: Gesamtschulleiter Siegbert Jäckle und Carmen Stahel, Leiterin Pädagogische Fachstelle und Verantwortliche Begabungs- und Begabtenförderung. (Bild: zVg)

Carmen Stahel, Siegbert Jäckle, was ist Ihnen im positiven Sinn von Ihrer eigenen Schulzeit in Erinnerung geblieben?
Jäckle: Wir waren eine sehr gute Gemeinschaft. Am meisten Spass haben mir die vielen Projektarbeiten gemacht, bei denen oft die Eltern einbezogen waren. Und ja, die Elternabende fanden damals noch ganz locker in der Beiz statt (lacht). Ein Höhepunkt war sicher die Abschlussreise nach Berlin. Auch als Lehrer unterrichtete ich später sehr projektbezogen. Als wir zum Beispiel das Thema Indianer durchnahmen, bauten wir ein Tipi, lasen Geschichten der Indianer und kochten zusammen nach ihren Rezepten.

Stahel: Mir sind die Dinge in Erinnerung geblieben, bei denen ich das Gefühl hatte, frei entscheiden und mich einbringen zu können. Vieles habe ich zu meiner Schulzeit gewissermassen abgearbeitet, weil ich ehrgeizig und fleissig war, aber es hat mich gelangweilt. Die Art, wie die Themen vermittelt wurden, hat mir oft nicht entsprochen. Als Lehrerin habe ich mich bemüht, das anders zu machen. Ich liess den Schülerinnen und Schülern viele Freiheiten, sie konnten beispielsweise ihre Aufgaben und den Zeitpunkt der einzelnen Fächer nach einem Wochenplan selbst einteilen.

Es gelang Ihnen also, in unserem System Ihre eigene Vorstellung von Schule umzusetzen?
Stahel: Ich bin damit zumindest nicht angeeckt. Aber ich lernte: Was für die einen passt, kann die anderen überfordern. Für die Kinder, die kognitiv gut unterwegs waren, war so viel Freiheit super. Die anderen konnten damit nicht umgehen. Sie brauchten eine engere Art von Führung, um sich wohlzufühlen. Der Begabtenunterricht, den ich in den vergangenen Jahren hier in Brugg aufgebaut habe, dreht sich exakt um diesen Themenbereich. Im Zentrum steht die Frage: Wie soll ein Unterricht aussehen, in den die Kinder ihre eigenen Interessen mit passenden Lernbedingungen einbringen können?

Jäckle: Wir diskutieren oft darüber, wie man den Unterricht gestalten soll, damit er im Kern mit dem Leben zu tun hat.

Und, haben Sie die Antwort gefunden?
Jäckle: Zumindest in Form eines tollen Beispiels. 2019, im Ideenlabor brachte ein Junge eine Frage ein, die ihm sein Vater in den Sommerferien auf einer Fahrt mit der Fähre gestellt hatte, nämlich: Warum kippt dieses Schiff nicht? Seine Präsentation hat mich tief beeindruckt. Er zeigte tolle Folien und untermalte sie mit Filmen von Experimenten, die er im Brunnen vor dem Hallwylerschulhaus umgesetzt hatte: Wie muss ein Kiel beschaffen sein, damit das Schiff schwimmt? Und wann kippt es? In seinen Vortrag flossen so viele Schulfächer ein: sprachliche Fähigkeiten, Mathematik, Physik, bildnerisches Gestalten. Und die Basis war eine Fragestellung aus dem Leben. So sollte man unterrichten können!

Der Lehrplan 21 bietet dafür ja Möglichkeiten, oder?
Jäckle: Man kann auf der Basis des Lehrplans in diese Richtung gehen, ja. Und bewegt sich gleichzeitig als Lehrperson in einem Spannungsfeld: Darf ich das? Müsste ich nicht etwas anderes priorisieren? Gerade im Bereich der Förderung der Kompetenzen gibt es im Lehrplan 21 viele Möglichkeiten, mit starken sowie mit schwachen Schülern projektbezogen zu arbeiten. Hier in Brugg laufen in diesem Bereich tolle Kooperationsprojekte, etwa mit der Stadtbibliothek, wo die Kinder über die konkrete Nutzung in die Welt der Literatur eingeführt werden. Oder mit dem Zimmermannhaus, wo beim Projekt «Aussenzimmer» das Thema Kunst erlebbar wird. Toll finde ich ausserdem die Energietage, die wir in Zusammenarbeit mit der Abteilung Planung und Bau, der IBB und dem Ökozentrum Langenbruck durchführen. Bei diesen Projekten arbeiten wir oft stufendurchmischt. Das funktioniert gut. Wichtig ist, dass man den Schülerinnen und Schülern etwas zumutet – und zutraut.

Der Lehrplan bietet also Raum für Projekte. Was dämmt auf der Gegenseite den Forschergeist von Lehrern und Schülern ein?
Stahel: Das Prinzip, auf Kompetenzen zu setzen, ist schön und gut, aber es ist nicht zu Ende gedacht.

Jäckle: Wir machen zwar kompetenzorientierten Unterricht, aber am Ende gibts – zack! – eine Note. Und die entscheidet darüber, welche Art Oberstufe man besucht und ob man es an die Kanti schafft. Viele Schülerinnen und Schüler wissen sehr viel, aber sie können es nicht ins Leben transferieren. Den Pythagoras zu berechnen, ist das eine, ihn aber im Alltag anwenden zu können, ist das andere. Die Bildung muss, wenn sie nachhaltig sein soll, eine Wirkung auf die ausserschulische Welt haben.

Ist das Notensystem per se defizitorientiert?
Stahel: So wie es meist gelebt wird, schon. Mich stresst, dass Schülerinnen und Schüler heute «pausenlos» bewertet werden. Wir wissen, dass niemand perfekt ist, und gleichzeitig vermitteln wir, dass wir in unserer Gesellschaft perfekt herangezogene Kinder wollen. Ich fände viel wichtiger, die Kinder erfahren zu lassen, dass wir alle Schwächen haben und dabei tolerant miteinander und mit uns selbst umgehen können.

Jäckle: Ein Lehrplan hinkt stets hinterher. Bis er umgesetzt wird, dauert es so lang, dass der Zeitgeist uns längst wieder überholt hat. Vieles muss man heute nicht mehr im Kopf haben, das kann man im Internet googeln. Dafür ist es wichtig, sich zu überlegen, wie man Fake News von der Realität unterscheiden kann und was die Entwicklung der künstlichen Intelligenz für uns Menschen bedeutet. Aber wenn wir im Unterricht solche Fragen ins Zentrum stellen, hören wir oft die Kritik, man könne den Erfolg so nicht messen. Man misst bei der Beurteilung des Unterrichts leider vielfach mit Massstäben, die längst nicht mehr an der Zeit sind.

Stahel: Ich beobachte an meinen eigenen Kindern, dass sie nicht mehr alles Wissen ausspucken können, auf ihrem Handy aber in Windeseile finden, wonach sie suchen. Das sind wertvolle Kompetenzen, die sie mir voraus haben. Ich stelle mir oft die Frage nach der richtigen Art der Förderung. Und ich habe den Eindruck, dass wir die jungen Menschen irgendwohin ziehen, statt sie zu fragen: Wohin möchtest du denn? Wo liegen deine Qualitäten, mit denen du dich in die Gesellschaft einbringen kannst?

Jäckle: Viele Schülerinnen und Schüler verschliessen sich, wenn der Leistungsdruck zu stark wird, obwohl sie unglaublich viel können. Mithilfe von Gefässen wie dem Ideenlabor oder anderen Angeboten der Begabungsförderung versuchen wir, den Druck zu nehmen und etwas in den Bereich der Volksschule zu bringen, das den Unterricht für die Schülerinnen und Schüler spannend macht. Das sind kleine Schritte, aber sie können letzten Endes etwas bewegen.

In Ihrem beruflichen Alltag bewegen Sie sich zwischen vielen Fronten und insgesamt in einem grossen Spannungsfeld: Wie halten Sie das aus?
Jäckle: Manchmal wünschte ich mir in der Tat, ich wäre ein Chef, der selbst bestimmen kann (lacht). Inmitten all der Systeme und Vorgaben fühle ich mich zuweilen eingezwängt. Ich muss mich mit vielen Fragen auseinandersetzen, die das System schwerfällig machen. Manchmal werden Bagatellen unglaublich aufgebauscht. Die Dynamik und der administrative Aufwand haben in unserem Job stark zugenommen. Für jede Lektion muss man kämpfen, Gesuche schreiben und Stellungnahmen verfassen. Auch die Anstellungen von Lehrpersonen sind komplex geworden: Sehr viele arbeiten Teilzeit, oft in kleinen Pensen, dazu kommt der Fachkräftemangel, der uns zwingt, nicht ausgebildete Leute anzustellen, die wir dann intensiv begleiten und coachen müssen, damit sie durchhalten. Und dann kommen wieder die Eltern, haben Ansprüche und sehen meist nur ihr eigenes Kind, nicht das Ganze. Es ist wie bei einem Mobile: Bewegt man einen Teil, kommt gleich das Ganze in Bewegung. Diese Komplexität ist herausfordernd und extrem spannend.

Stahel: Man muss sehr resilient sein in diesem Job – und standfest (lacht). Die Erwartungen rundum steigen, die Rahmenbedingungen verändern sich aber kaum. Das zehrt an den Ressourcen. Wenn es aber gelingt, eine Entwicklung anzustossen – und sei es in winzigen Schritten –, dann macht die Arbeit grossen Spass.

In diesem ganzen Strudel ist es Ihnen gelungen, einen Partizipationsprozess für die Zukunft der Schule zu lancieren und neue Projekte wie die Begabungsförderung und das Integrations- und Förderkonzept zu entwickeln. Wie geht es weiter?
Jäckle: Wir sind daran, die Vision einer Wertebrücke zu entwickeln. Sie soll den gemeinsamen Nenner unserer Schulhäuser, die ihre individuelle Kultur haben, festhalten und all die vielen tollen Teile, die Schüler, Lehrpersonen und Eltern entwickeln, auf ein gemeinsames Fundament stellen.

Stahel: Gelingt uns das, wirkt die Schule nicht mehr wie eine Insel, sondern sie schlägt die Brücke zum Alltag, wirkt ins Leben, in die Gesellschaft hinein – und umgekehrt.