«Heterogene Klassen bieten Chancen»

Mehr ist mehr: Erziehungswissenschaftlerin, Psychologin und Gymnasiallehrerin Sabrina Lisi ist überzeugt, dass Vielfalt in der Schule die Resilienz fördert.
Engagiert sich für die Schule der Zukunft: Expertin Sabrina Lisi. (Bild: zVg)

Sabrina Lisi, Sie erforschen das Thema Resilienz in der Schule. Was muss ich mir darunter vorstellen?
Es geht nicht um das populäre Verständnis von Resilienz im Sinne einer Haltung, dass Menschen stressresistent gemacht werden sollen, oder nach einem Schicksalsschlag einfach wieder aufstehen sollen. Im Zentrum steht vielmehr das Verständnis dafür, wie sich ein Mensch entwickelt und was für ernstzunehmende Hürden dabei entstehen können. Dies können zum Beispiel Kindheitstraumata, schwierige Verhältnisse zuhause oder eine andere Hautfarbe und daraus folgende Diskriminierungen sein. Solche Gründe können dazu führen, dass jemand weniger Zugang zu Bildungschancen hat.

Inwiefern?
Sie haben einen Einfluss auf die Aufnahme- und Entwicklungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen. Es ist wie ein blinder Fleck, den Lehrpersonen oft nicht sehen. Sie gehen davon aus, dass guter Unterricht allein von der Art der Aufbereitung und Vermittlung des Stoffs abhängt – und damit alle die Chance haben, diesen zu verarbeiten. Wer leistet, kommt in die Bezirksschule; wer nicht leistet, in die Real. So einfach ist es leider nicht.

Leistung hat also nicht nur mit Intelligenz und Willenskraft zu tun?
Die Fähigkeit, etwas aufzunehmen und zu lernen, ist aus verschiedenen Gründen nicht bei allen in gleichem Mass vorhanden. Das hat oft nichts mit Intelligenz zu tun, sondern mit Faktoren wie der Belastung zuhause, dem Umgang der Eltern mit dem Kind, der Tatsache, dass man nicht bei den Eltern aufwachsen kann. Da kann viel Stress entstehen durch Dinge, die nichts mit der Schule zu tun haben, aber dennoch in die Schule reingetragen werden. Sie bleiben häufig unsichtbar, werden verkannt oder falsch eingeschätzt. Dieses Kind ist halt nicht so intelligent oder faul, heisst es dann. Aus meinem eigenen Alltag als Gymnasiallehrerin weiss ich: Was die Kinder und Jugendlichen zum Teil zuhause erleben und durchmachen, ist sehr belastend. Und dann hinzugehen und Leistung zu erbringen, an der man gemessen wird, das ist heftig. Hier setzt mein Diskurs zur Resilienz an.

Woran merkt man als Lehrkraft, ob so ein Untergrund mitschwingt oder ein Kind einfach abhängt, weil es lieber chillen will?
In der Oberstufe kann es sein, dass jemand immer müde ist, am Morgen zu spät kommt oder nicht bei der Sache ist. Das wertet man häufig als Desinteresse. «Kim will nicht zuhören», sagt man dann als Lehrerin. Dabei kann Kim nicht zuhören. Oft zeigen sich auch Schmerzen oder andere psychosomatische Symptome wie Angstzustände. Auf der Primarstufe kann es sich so äussern, dass ein Kind nicht ruhig sitzen kann, ständig die Aufmerksamkeit der Lehrperson einfordert oder überangepasst ist.

Und wie kann man als Lehrperson solche Kinder unterstützen?
Im Schweizer Schulsystem entscheiden Noten darüber, was mit einem Kind in schulischer Hinsicht passiert oder eben nicht. Diese Fokussierung hält Lehrpersonen oft davon ab, einfach mal zu fragen: Wie geht es dir? Weil sie innerlich wissen: Geht es dem Kind nicht gut und kann es seine Leistung nicht erbringen, habe ich als Lehrperson einen Konflikt. Denn wie soll ich das Kind jetzt benoten? Diese Leistungsorientierung und die Nutzung der Noten als selektives Mittel für weitere Schulen: Das ist nicht sehr menschlich. Keine Noten zu geben, heisst im Umkehrschluss aber nicht, dass man auf Rückmeldungen verzichtet oder Leistungen nicht mehr überprüft.

Um Kinder und Jugendliche zu unterstützen, müssen wir auch von der Fremdbestimmung wegkommen. Egal, ob du müde bist, weil bei dir zu Hause gerade die Hölle los ist: Jetzt machen wir Mathe, morgen haben wir eine Prüfung, jetzt ist Pause, jetzt gehst du aufs Klo. Diese Gleichschaltung macht keinen Sinn. Vielleicht wäre es für ein Kind, das aufgrund einer Konfliktsituation zuhause drei Nächte kaum geschlafen hat, besser, wenn es die Prüfung erst in zwei Wochen schreibt. Oder vielleicht haben die Schülerinnen und Schüler nach 45 Minuten grad Feuer gefangen für ein Thema. Und dann ist Pause. Ich würde es begrüssen, etwas mehr Flexibilität zu haben im System. Es käme der Diversität, welche die Schülerinnen und Schüler mitbringen, entgegen.

Sie streben also ein Modell an, in welchem die Kinder mehr mitbestimmen können?
Grundsätzlich schon. Man hat als Lehrperson zum Beispiel Angst, einem Kind, das den Wunsch nach einer Pause äussert, zu sagen: Ja, nimm dir diese Pause. Das fühlt sich nicht systemkonform an. Aber es macht doch keinen Sinn, im Unterricht die Selbstwahrnehmung zu fördern und gleichzeitig darüber zu bestimmen, wann die Schülerinnen und Schüler eine Pause brauchen.

Oft wird argumentiert, auch in der Arbeitswelt müsse man sich nach den Anweisungen richten.
Ich stelle vieles in der Arbeitswelt in Frage. Wir haben nicht umsonst so viele Burn-Outs und Überlastungsfälle. Und von diesen sind immer mehr auch jüngere Menschen betroffen. Das ist kein Zufall. In der Schule hören wir häufig, wir müssten die Kinder so erziehen, dass sie optimal in die Arbeitswelt reinpassen. Aber dass die Arbeitswelt auch ihre dysfunktionalen Systeme hat, die den Menschen nicht gut tun, das wird oft verkannt. Dabei gibt es schulische Modelle und Arbeitsmodelle, die uns zeigen, dass es auch anders geht.

Welche denn?
Skandinavien hat solche Modelle flächendeckend umgesetzt. Da gibt es bis zum neunten Schuljahr keine Selektion. So bleibt die Diversität stärker erhalten. Die Forschung zeigt: Je heterogener die Klassen zusammengestellt sind, desto bessere Chancen haben Jugendliche, die nicht so privilegiert sind. Diverse Zusammensetzungen von Klassen bedeuten nicht, dass dann alle die gleiche Leistung zeigen, aber sie fördert die Teilhabe an anderen Lebens- und Erfahrungswelten. Komme ich aus einem nicht privilegierten Haushalt, habe ich vielleicht eine Überfliegerin aus einem privilegierten Haus zur Freundin. Ich gehe zu ihr heim, erlebe andere Dinge, komme aus meiner Bubble raus – und umgekehrt. Das bietet einfach mehr Chancen.

Auch für die privilegierten Kinder?
Diversität ist jedenfalls nicht zu ihrem Nachteil, das zeigt die Forschung ganz klar. Einzig bei den Hochbegabten sieht es anders aus. Die brauchen zusätzliche Unterstützung, um ihr Potenzial ausleben zu können.

Wie weit ist die Schweiz noch vom skandinavischen Modell entfernt?
Wohl ähnlich weit wie damals beim Frauenstimmrecht (lacht). Im Ernst: Würde eine Schulleitung auf mich zukommen und mich fragen, ob ich bei der Entwicklung eines zeitgemässen und auf die Förderung von psychischer Gesundheit und Wohlbefinden ausgerichteten Schulmodells mitmachen würde, ich wäre sofort dabei. Zu dem müssen wir das alles ja gar nicht neu erfinden. Es gibt diese Modelle von Schule schon – in anderen Ländern, wo sie seit Jahrzehnten erfolgreich praktiziert werden. An dem Gymnasium, an dem ich unterrichte, leite ich ab August 2023 ein partizipatives Peer-to-Peer-Pilotprojekt, also von Jugendlichen für Jugendliche, welches die psychische Gesundheit durch gemeinsame Schulaktionen wie dem «10i-Pause-Rave» fördert. Langfristig soll das Projekt an möglichst vielen Schulen umgesetzt werden.

Die Schule nicht als ein Ort des Leistungsdrucks, sondern des Wohlbefindens, der Wertschätzung und Unterstützung: Das klingt gut.
Kinder und Jugendliche sind im Kern interessierte Wesen. Fehlt ihre Integration aber bei der Mitbestimmung, was sie wann wie lernen, dann unterrichtet man an ihnen vorbei. Ich glaube, dass man weniger defizitorientiert arbeiten und sie mehr bei ihren Fähigkeiten und Kompetenzen abholen sollte. Statt «Das kannst du nicht», «Das musst du noch anschauen» hiesse es dann: Toll, dass du diese Fähigkeiten und Interessen mitbringst! Wie können wir dich dabei unterstützen, dazuzulernen und Neues kennenzulernen? Ich habe gute Erfahrungen mit Edu-Barcamps gemacht. Das ist eine Methode, die man als Unterrichtseinheit während ein paar Wochen einsetzen kann – Schule liesse sich auch generell so denken. Man gibt in einem Input ein grosses Oberthema vor und lässt die Schülerinnen und Schüler frei assoziieren. So entsteht eine Art Mindmap, ein sortiertes Cluster an Unterthemen, aus dem sich alle ihr Thema aussuchen können. Danach wird individuell Feldforschung betrieben, begleitet von den Lehrkräften. Am Ende stellt man die Projekte bei einer Forschungsvernissage vor.

Das stellt aber grosse Anforderungen an die Lehrpersonen.
Es braucht Offenheit und Neugierde. Kommen Schülerinnen und Schüler zuerst mit «unbrauchbaren» Ansätzen, besteht die Kunst darin, nicht zu sagen: Nein, das machst du nicht – das ist ein schlechtes Thema oder eine blöde Idee. Es geht darum, das, was sie bringen, zu drehen und zu wenden, bis man gemeinsam entdeckt: Doch, damit lässt sich weiterarbeiten. In diese Richtung sollte das Schulsystem meiner Meinung nach gehen. Eine Weiterbildung zu Diversität in der Schule biete ich beispielsweise am PZ.BS an.

Dienstag 16. Mai, 18.30 Uhr
Campus FHNW, Brugg-Windisch
bnaargauost.ch