Andrea Rauber Saxer, Sie sind derzeit als Personalchefin beim Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) tätig und dort auch mit den Herausforderungen des Fachkräftemangels konfrontiert. Gute Leute zu halten und neue zu rekrutieren, ist das Schlagwort der Stunde. Merken Sie, dass Frauen mehr Forderungen stellen, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie umsetzen zu können?
Ich stelle fest, dass ein grosser Wunsch nach Teilzeitarbeit besteht. Für Mitarbeitende der Bundesverwaltung sind solche Modelle meist problemlos umsetzbar. Im Vergleich zu anderen Arbeitgebern ist festzustellen, dass viele noch nicht so weit sind.
Sie waren von 2016 bis 2020 Botschafterin der Schweizerischen Eidgenossenschaft in Bosnien-Herzegowina. Waren Ihre drei Kinder (heute im Alter zwischen 13 und 16) in Sarajevo dabei?
Ja, sie waren dort an einer internationalen Tagesschule. Sie kamen um vier Uhr nachmittags nach Hause und hatten die Aufgaben und ihr Freizeitprogramm bereits erledigt. Unsere Kinder haben das genossen. Als wir zurückkamen, fanden sie es mühsam, über Mittag heimzukommen.
Wie war das für Sie als Eltern, sich neu zu organisieren, als Sie vor drei Jahren zurück nach Brugg kamen?
Es gibt natürlich auch in Brugg einige Möglichkeiten. Die IG Tagesschule Brugg Windisch engagiert sich ja in diesem Bereich. Die Organisation gestaltet sich aber noch immer wie ein Flickenteppich. Man muss die Randstunden vor Schulbeginn organisieren, dann den Mittagstisch, die Stunden nach dem Unterricht sowie den schulfreien Mittwochnachmittag. Man muss sich die Betreuung zusammenpuzzeln.
Gibt es Bemühungen von den Gemeinden, das Betreuungsangebot kohärenter und koordinierter mit den Unterrichtszeiten abzustimmen? Eine Standardisierung scheint dringend nötig zu sein.
Das Angebot für die Kinderbetreuung, das berufstätige Eltern antreffen, variiert von Gemeinde zu Gemeinde. Lenzburg hat sich auf den Weg gemacht, um in dieser Hinsicht etwas zu bewegen.
Aus diesem Grund lädt die GLP Brugg zu einer öffentlichen Informationsveranstaltung ein, wo Sie einleitend zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf sprechen. Danach wird Barbara Portmann, Stadträtin und Bildungsvorsteherin in Lenzburg, ein Themenreferat halten.
Darauf freue ich mich. Barbara Portmann ist mit dem Thema einerseits aus eigener Erfahrung, andererseits als politische Verantwortliche bestens vertraut.
Was genau macht Lenzburg anders?
In Lenzburg hat man erkannt, dass die jetzige Situation mit den À-la-carte-Betreuungsprogrammen weder für die Familien noch für die Gemeinden zufriedenstellend ist und Lösungen gefunden werden müssen, die standardisierte Alternativen bieten können. Die bisherigen Konzepte stossen an ihre Grenzen, weil sie unpraktisch sind, zumindest wenn sie einen ganzen Tag oder eine ganze Schulwoche abdecken müssen. Sie sind zu wenig flexibel. Fällt eine Schulstunde aus oder ist das Kind krank, muss man jedes organisierte Betreuungsmodul einzeln abändern. Wären Tagesstrukturen über die Schulen abgedeckt, wäre die Koordination um vieles einfacher. Lenzburg setzt auf die Einführung von Tagesstrukturen.
Welche Vorteile ergäben sich aus Sicht der Schulen?
Man könnte Unterricht und Betreuung verschränken. Ich habe das in Sarajevo und in Wien erlebt. Wenn die Kinder die Hausaufgaben vor Ort in der Schule machen, dann wissen die Lehrpersonen, was gefordert ist, und können die Kinder entsprechend unterstützen. An der Bezirksschule in Brugg gibt es Bemühungen, es ist Teil des neuen Lehrplans. Aus meiner Sicht kann man das aber ausbauen und aus der Aufgabenunterstützung eine Anleitung für Gruppenarbeiten und selbstständige sowie fächerübergreifende Projektarbeit machen. Die Möglichkeiten sind riesig, aber sie sind natürlich mit einem Anfangsaufwand für die Lehrpersonen verbunden.
Die Schweiz rangiert im internationalen Vergleich stets auf Spitzenplätzen, was die Innovation betrifft. Weshalb will sie bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die für die Innovationskraft eines Landes ja ebenfalls ein integraler Bestandteil ist, nicht vorn mithalten?
Das ist eine Frage, die ich mir auch stelle. Es ist nicht so, dass man hier keine Kenntnis von dem Thema hat. Ich vermute, es ist letztlich eine Kostenfrage. Zusätzliches Fachwissen und Engagement sind gefragt. Vielleicht wird es noch viel zu wenig gefordert – das Familienbild in der Schweiz ist weiterhin sehr konservativ. Es ist hier gar nicht gewünscht, dass Frauen voll arbeiten.
Was halten Sie davon?
Jede Familie muss das selbst wissen. Trotzem ist es von gesamtgesellschaftlichem Interesse, dass Möglichkeiten für diejenigen, die das anders leben wollen, bestehen sollten. Wir haben es zu Beginn dieses Gesprächs erwähnt: Wegen des bestehenden Fachkräftemangels müssen wir uns überlegen, wie wir wenigstens die bestehenden Fachkräfte optimal nutzen können. Die gleichen Kreise, die möchten, dass Familien nach dem alten Modell leben, stellen sich zugleich gegen die Zuwanderung. Wir müssen uns überlegen, wie wir die Zuwanderung regeln und andere Lösungen fördern, damit wir für unseren Arbeitsmarkt genügend Arbeitskräfte haben. Das bedeutet, eine Vereinfachung der Tagesbetreuung anzubieten. Die Entscheidung, ob man zu Hause bleibt oder arbeiten geht, darf nicht daran scheitern.
Es braucht unter anderem gesetzliche Rahmenbedingungen.
Im Aargau haben wir das neue Gesetz über die Tagesstrukturen, das die Gemeinden fordert, solche Angebote einzurichten. Blockunterricht würde Schulen sowie Eltern helfen, die Organisation der Betreuung einfacher zu gestalten. Das würde allerdings einen Paradigmenwechsel an den Schulen bedeuten.
Das Gesetz besteht seit 2016. Es scheint nur schleppende Fortschritte zu geben. Ist ein Paradigmenwechsel realistisch?
Es muss sich eben noch vieles einspielen. Gewisse Gemeinden wollen sich nach wie vor organisieren, andere haben das Gefühl, das schon erledigt zu haben. Es reicht bis jetzt nicht, was getan wurde. Die Idee ist, dass man jetzt die Chance nutzt, die Schulen noch mehr einbindet und Unterrichtsgestaltung und Hausaufgabenstunden viel mehr miteinander verschränkt. Das geht nicht von heute auf morgen.
Die Schulbetriebe mussten in der Pandemielage sehr schnell reagieren, sich auf die neue Situation einstellen und sich zum Teil grundlegend neu organisieren. Das ging auch innert kürzester Zeit.
Es braucht weiterhin Druck, um das Dilemma zu überwinden. Bei den ausserschulischen Tagesstrukturen sind die Eltern finanziell beteiligt. Will man die Tagesstrukturen in öffentliche Schulen überführen, dann kann man von den Eltern nichts mehr zusätzlich verlangen. Lenzburg geht in diese Richtung. Ebenso gibt es in Baden und Aarau Tagesschulen. Ich bin zuversichtlich.
Für mediale Aufmerksamkeit sorgt derzeit eine Studie, die von den beiden Professorinnen Margit Osterloh und Katja Rost erstellt wurde. Die Ergebnisse dieser Studie lauten, arg verkürzt, dass Studentinnen lieber einen erfolgreichen Mann wollten, als selbst Karriere zu machen. Was sind Ihre Beobachtungen?
Das kann man nicht verallgemeinern. Ich glaube nicht, dass alle Frauen eine Karriere wollen, aber ebensowenig, dass alle Frauen es nicht wollen. Der Punkt ist doch: Jede Frau muss die Wahl haben sowie die Möglichkeiten, ihre Entscheidungen zu realisieren. Es ist sehr oft mehr möglich, als man denkt. Man muss es sich zutrauen, nach Lösungen zu suchen. Teilzeitarbeit ist zum Beispiel bei Männern nicht mehr negativ behaftet.
Wer entsprechende Forderungen gegenüber dem bestehenden System äussert oder sich mit individuellen Lösungen selbst organisiert, setzt sich oft Kritik aus, sogar jener von anderen Müttern und Frauen. Wer heute beispielsweise ein Kindermädchen hat, gilt als elitär und überprivilegiert.
Hier gilt das Prinzip «leben und leben lassen». Ein Familienmodell kann für die einen stimmen, und die anderen benötigen ein anderes. Natürlich sind Kindermädchen keine günstige Lösung. Wer sich das leistet, investiert in die eigene Karriere und hat die beiden Investitionen meistens sehr gut gegeneinander abgewägt, weil ein Grossteil des Lohns dafür eingesetzt wird.
Ein oft bemühtes Argument lautet, dass anteilsmässig fast der ganze Lohn von Frauen, die arbeiten, in die Kinderbetreuung fliesse.
Ja, das stimmt – für eine befristete Zeit. Ich behaupte, die gleichen Frauen sind später, wenn die Kinder selbstständig sind, froh, dass sie immer einen Fuss im Berufsleben hatten. Auch hier gilt: Das ist eine persönliche Wahl.
Es ist eine persönliche Wahl mit grosser gesellschaftlicher und politischer Auswirkung.
Eindeutig. Es gibt viele gut ausgebildete Frauen, in die der Staat und die Gesellschaft investiert haben. Wenn es wirklich nur an der Kinderbetreuung scheitert, dass sie nicht arbeiten, dann ist das ein Armutszeugnis für den Staat.
Gehören die Auseinandersetzung und die Organisation mit Betreuungsmöglichkeiten zum Mental Load, dem sich viele Frauen ausgesetzt sehen?
Ich glaube schon. Und es sind überwiegend die Frauen, die daheim bleiben, wenn das Kind krank ist. Hier hat aber die Pandemie viel verändert. Heute ist es kein Thema mehr, mal einen Tag von zu Hause aus zu arbeiten. Diese Flexibilität braucht es von beiden Seiten, vom Arbeitgeber und vom Arbeitnehmenden. Hier hat sich erfreulich viel bewegt.
Wie wichtig sind weibliche Vorbilder für andere Frauen?
Ich erachte Mentorinnen als sehr wichtig. Jemand, der konkrete Tipps gibt und präsent ist. Ich finde es wichtig, dass es Ansprechpersonen gibt, die das Business kennen und Bedürfnisse aufgrund persönlicher Erfahrungen nachvollziehen können.
Sie hatten selbst ein starkes Vorbild. Ihre Mutter Marianne Rauber-Jaeggli (FDP) wurde noch vor der Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz politisch aktiv. Färbt es ab, so aufgewachsen zu sein?
Ich glaube schon. Wir haben zu Hause viel über Politik diskutiert. Das ist bestimmt ein Grund dafür, dass ich begann, mich für Politik zu interessieren, und später Jus studierte. Bereits als Zehnjährige schrieb ich einen Brief an Bundesrat Pierre Aubert, es ging um einen Besuch von Arafat. Und: Er schrieb sogar zurück.