Ursula Heimgartner, die Fachstelle Pflegekind Aargau sucht Familien, die sich für diverse Unterbringungsformen interessieren. Neben Dauerplatzierungen erhalten Sie immer mehr Anfragen für Entlastungs- und Ferienplätze. Daneben werden auch Familien für Notfallplätze gesucht. Woher diese Zunahme?
Wir gehen davon aus, dass gesellschaftliche Veränderungen der Grund sind, warum Notfallplatzierungen und Anfragen für Entlastungs- und Ferienplätze zugenommen haben. Der Bedarf an Familien, die kurzfristig Plätze für eine beschränkte Zeit anbieten, ist gross. Wir suchen aber nicht nur Notfallplätze, sondern auch Menschen, die bereit sind, Kinder für eine Ferienzeit oder für regelmässige Wochenenden als Gastfamilien aufzunehmen. Dieses Angebot ist für Familien in Notsituationen gedacht, beispielsweise alleinerziehende Frauen, die im Alltag an ihre Grenzen kommen und überfordert sind. Zudem können Pflegefamilien, die ein Kind in Dauerpflege haben, durch eine solche Entlastungsfamilie unterstützt werden. Trotz vieler Anfragen für Entlastungs-, Ferien- und Notfallplätze sind Anfragen für Dauerplatzierungen auch immer ein grosses Thema.
Dauerplatzierungen sind das eine – sie lassen sich meist planen. Wann aber sind sogenannte Notfallplatzierungen erforderlich?
Beispielsweise dann, wenn eine Gefährdungsmeldung vorliegt. Das Familiengericht entscheidet oft sehr schnell, dass man ein Kind aus seiner Herkunftsfamilie herausnehmen muss. Hat das Kinderheim keinen Platz, muss das Kind in einer Pflegefamilie untergebracht werden. SOS-Platzierungen sind ausserdem nötig, wenn eine akute Suchtproblematik vorliegt oder ein Elternteil ins Spital muss. Das sind Notsituationen, die eine schnelle Unterbrindung erforderlich machen, oft aber die Option auf Rückkehr in sich bergen.
Das bedeutet, dass die Kinder wieder in ihre Familien zurückkehren?
Die Notfallplatzierungen dauern maximal sechs Monate. Entweder die Kinder – und das können Säuglinge bis zu 15-Jährigen sein – können, falls sich die Situation dort geändert hat, danach zurück in ihre Herkunftsfamilie oder es werden Anschlusslösungen gesucht.
Was müssen Einzelpersonen, Paare und Familien mitbringen, um so einen Platz anbieten zu können?
Sicher das Verständnis für sozial benachteiligte und traumatisierte Kinder, viel Zeit und Aufmerksamkeit. Denn es sind ja spezielle Bedürfnisse, die ein Kind hat, das aus einem sicheren Rahmen fällt.
Ich dachte, der Rahmen sei bei Notfallplatzierungen eben gerade nicht sicher?
Das ist die Aussenperspektive. Für das betroffene Kind aber ist sein Zuhause erst einmal der sichere und vertraute Ort. Es kennt ja nichts anderes. Und den muss es nun verlassen. Es braucht vonseiten der Pflegefamilie viel Verständnis, Geborgenheit, Liebe und Zuwendung – und gleichzeitig klare Grenzen. Vor allem bei jüngeren Kindern kommt eine hohe Planungsflexibilität hinzu, man braucht also zeitliche Ressourcen.
Das klingt nach einem grossen Brocken. Wie wird man bei dieser verantwortungsvollen Aufgabe unterstützt?
Wir begleiten alle Pflegeeltern intensiv, und das vom ersten Kontakt an, der ja oft übers Telefon zustande kommt. Dann klären wir erste Rahmenbedingungen. Gibt es ein eigenes Zimmer für das Kind, damit es sich zurückziehen kann? Sind die entsprechenden Ressourcen vorhanden? Sind Partnerin, Partner und die eigenen Kinder einverstanden? Und dann schauen wir ausserdem die Motive an. Was sind die Gründe, weshalb jemand ein Kind bei sich aufnehmen möchte?
Zum Beispiel, wenn jemand keine eigenen Kinder bekommen konnte?
Das kann ein Grund sein. Oder auch, dass die eigenen Kinder ausgeflogen sind und man wieder etwas Leben im Haus haben möchte. Diese Gründe zu klären, ist wichtig. Ebenso der sprachliche Hintergrund. Dass Pflegeeltern fliessend Hochdeutsch oder Mundart sprechen, ist Bedingung. Was über diese Grundlagen hinausgeht, klären wir bei einem Erstgespräch. Es liegt uns viel daran, die Menschen gut kennenzulernen. Dann wissen wir, was für ein Kind zu ihnen passen könnte. Sind die Personen, die sich bei uns melden, nach dem Erstgespräch immer noch motiviert, folgt der eigentliche Bewerbungsprozess. Dabei setzen sich die Interessentinnen und Interessenten mit ihrer eigenen Kindheit, ihrem Erziehungsstil und weiteren Fragen auseinander – und reichen das Ergebnis in schriftlicher Form ein. Kommen wir dann zu dem Schluss, dass sich die Personen eignen, folgt ein Hausbesuch von zwei Fachmitarbeiterinnen. Danach gibt es einen Orientierungstag und weitere Veranstaltungen zu Themen wie Umgang mit Traumatisierten, Nähe/Distanz, Rechte und Pflichten der Pflegeeltern. Und dann ist der Moment gekommen: Wir nehmen die Bewerberinnen und Bewerber in unseren Pool auf.
Ein aufwendiges Verfahren.
Der Prozess dauert oft ein halbes Jahr. Dass wir ihn sehr sorgfältig durchführen, ist für beide Seiten ein Gewinn und ein Qualitätsmerkmal. Es stärkt die Beziehungen, auch zwischen uns und den Pflegeeltern, und legt die Basis, um die schwierigen Situationen, die auf einen zukommen, durchzustehen.
Was meinen Sie mit schwierig?
Die Kinder, die man aufnimmt, haben grosse seelische Not erfahren, bei vielen ist die Impulskontrolle nur schwach ausgebildet. Das bedeutet: Man muss als Pflegeeltern ebenso einen heftigen Wutausbruch aushalten können. Dass wir die Familien bei ihrer anspruchsvollen Tätigkeit unterstützen, versteht sich von selbst. Wir begleiten mit Gesprächen und Besuchen, und unser Pikettdienst steht rund um die Uhr zur Verfügung.
Entscheidet sich jemand, sich auf dieses Abenteuer einzulassen und ein Kind aufzunehmen: Wo liegt der Gewinn?
Menschen, die in einer schwierigen Situation aufwachsen, Geborgenheit, Sicherheit und Wertschätzung zu geben, kann – wie wir von vielen Rückmeldungen wissen – etwas zutiefst Sinnstiftendes sein. Ein Pflegekind bereichert eine Familie, es bringt andere Perspektiven und Erfahrungen mit ein. Und nicht zuletzt: Die Kinder wachsen einem mit der Zeit ganz einfach ans Herz.