Justina Lee Brown heute: Zur Taufe ihrer neuen CD «Lost Child» steht sie im voll besetzten Nordportal auf der Bühne und singt daraus mit kehlig-rauem Timbre den Song «Joy». Freude bereitet sie dem Publikum definitiv. Mit ihrer energiegeladenen Ausstrahlung zieht sie sofort alle in ihren Bann. Zur Feier des Tages trägt sie einen silbernen Hosenanzug und feuerrote High Heels, die sie im Verlauf der Show allerdings auszieht.
Spürbare Chemie
Zusammen mit Thom Wettstein (Bass), David Stauffacher (Perkussion), Christoph Jaussi (Schlagzeug), Angelo Signore (Keyboards) und Nic Niedermann (Gitarre) entzündet sie ein regelrechtes musikalisches Feuerwerk. Die gute Chemie zwischen der Sängerin und ihren Mitmusikern ist spürbar. Und diese ist gemäss Justina Lee Brown von Anfang an da gewesen. «Schon beim allerersten Mal klang es, als ob wir seit ewigen Zeiten zusammengespielt hätten. Alles fügte sich ganz spontan und natürlich zusammen», sagt sie beim Interview vor dem Konzert. «Lost Child» ist nach «Black and White Feeling» das zweite Album in dieser Besetzung. Der junge Plattenproduzent Tobias Gilgen hat viel zum modernen, poppigen und tanzbaren Sound mit afrikanischen und westlichen Einflüssen beigetragen, mit dem sich Justina Lee Brown und Band präsentieren.
Rückblick: Justina Lee Brown (bürgerlich Ogunlolu) lebt mit ihrer Mutter in Lagos, Nigeria. Der Vater hat sich aus dem Staub gemacht. Beide sind bitterarm und fristen ihr Dasein jahrelang auf der Strasse. «Mama verkaufte auf dem Markt Wasser, damit wir uns wenigstens eine Mahlzeit pro Tag leisten konnten», erinnert sie sich an ihre Kindheit. Beim Hüten des Wasserkanisters fängt Justina aus Langeweile an zu singen. Plötzlich bleiben die Menschen stehen. Die Kleine hat Talent. Einige Münzen fliegen ihr zu. In verschiedenen Kirchen, die Armutsbetroffene unterstützen, singt sie später in deren Chören mit. Ein Chorleiter vermittelt die Jugendliche an ein Plattenstudio, wo sie als Background-Sängerin kleine Jobs erhält. Im Teenageralter tritt sie ihrer ersten Band bei. Es folgen kleine Tourneen durch Nigeria. Mit dem Hip-Hop-Song «Omo 2 sexy» gelingt ihr schliesslich der grosse Durchbruch. Sie wird in ganz Westafrika zum Star und tourt mit verschiedenen Formationen durch die Lande.
Es ist die Liebe, die sie ihre Karriere in der Heimat aufgeben lässt und die sie nach Europa führt. Der Neustart verläuft harzig. Justina Lee Brown verdankt es ihrem damaligen Förderer, dass sie bleiben kann. «Ohne ihn wäre ich nicht da, wo ich heute bin», zeigt sie sich dankbar.
Corona-Zäsur
Zurück ins Nordportal: Es wird ganz still im Raum, als Justina Lee Brown mit ungeheurer emotionaler Intensität die bluesige Ballade «Lost Child» intoniert. Der Titelsong des neuen Albums beschreibt das Gefühl der Verlorenheit, das sie als Kind hatte und unter dem sie später noch oft litt. «Als afrikanische Frau in der Schweiz bleibst du immer irgendwie eine Fremde», sagt sie. In der Band hat die Nigerianerin ihre Wahlfamilie gefunden. Ihren Förderer Niedermann lernte sie im Club Joy in Baden kennen. Er engagierte sie vom Fleck weg. Dank ihm konnte die Sängerin zu neuen Höhenflügen ansetzen. 2019 gewannen Justina Lee Brown und Band die Swiss Blues Challenge in Basel und gingen ein Jahr später aus der International Blues Challenge in Memphis (USA) als Halbfinalisten hervor. Eine Tournee war in Planung. Dann machte Corona alles zunichte. Justina Lee Brown, die einmal sagte: «Nur auf der Bühne bin ich richtig zu Hause», zog sich gezwungenermassen in die Einsamkeit zurück.
Heute ist sie für dieses Tief dankbar, denn es hat ihr einen ungeheuren Kreativitätsschub verliehen. Viele ihrer Songs auf dem neuen Album sind in dieser Zeit entstanden. In «Crossfire» beschreibt sie das schwierige Loslassen der Vergangenheit und all ihrer Selbstzweifel, die sie oft plagten. «Happy Day» kommt als entspannter, fröhlicher Reggae-Song daher. In der eindringlichen Ballade «Crown» zeigt sich die Nigerianerin versöhnlich mit sich und der Welt und präsentiert sich das erste Mal von ihrer jazzigen Seite. Dabei glänzt ihre stimmliche Reife strahlender denn je. Justina Lee Brown hat sich selbst gefunden. Auch dank der Unterstützung von Menschen wie Niedermann, die an sie glauben. «Heute bin ich glücklich und ruhe mehr in mir als früher», sagt sie. Ist sie jetzt die beste Version ihrer selbst? «Ja. Zumindest zu 75 Prozent. Es kommt noch mehr», meint die Künstlerin vielsagend. Dann streicht sie sich durch ihre langen eingeflochtenen Zöpfe, die ihr beim Verausgaben auf der Bühne um den Kopf fliegen, und lacht aus vollem Hals.