Wir sind viele

In der Rubrik «Querbeet» beleuchten namhafte Autorinnen und Autoren ein von ihnen gewähltes Thema – und sorgen damit wöchentlich für Inspiration.

Wussten Sie, dass in der Schweiz jeder fünfte Mensch mit einer Behinderung lebt? Und dass sich vier von fünf behinderten Menschen ausgeschlossen fühlen? Das besagt eine neue Studie von Pro Infirmis. Mich macht das betroffen. Meine Betroffenheit ist eine persönliche: Ich lebe seit 13 Jahren mit einer Hirnverletzung.

Oft höre ich, dass man mir «ja gar nichts ansieht», und das ist in gewisser Weise ein Vorteil. Ich werde in der Öffentlichkeit als vollwertiger Mensch wahrgenommen. Vielleicht als ein etwas langsamer, ungeschickter Mensch, aber niemand definiert mich in erster Linie als behindert. Wenn ich Hilfe brauche, sind die meisten erst irritiert. Ich möchte keine Schonung. Dafür sorge ich mit aller Kraft.

Und genau hier liegt das Problem. Das tun wir wohl fast alle. Behinderte Menschen wollen dazugehören, sie wollen kein Sonderfall sein, keine bedauernswerte Ausnahme. Niemand von uns möchte über seine Behinderung definiert werden. Die Studie macht mir klar, dass wahrscheinlich fast 1,8 Millionen Menschen tagtäglich still und unauffällig wie ich darum kämpfen, vollwertige Mitglieder unserer Gesellschaft zu sein. Dass wir andauernd damit beschäftigt sind, uns und unserem Umfeld zu beweisen, dass wir trotzdem wertvoll sind. Und dennoch fühlen wir uns so oft ausgeschlossen, abgestempelt, invalid. Hier läuft ziemlich viel schief.

Es wird Zeit, dass wir uns offen und mutig zeigen, lauter und selbstbewusster. Diskriminierung ist nicht nur eine Frage von Treppenstufen und Kommunikation. Diskriminierung beginnt in den Köpfen. Dort, wo Menschen nach Leistung, Effizienz und ökonomischem Wert beurteilt werden. Dort, wo jede Besonderheit eine Störung ist. Deshalb ist es so wichtig, dass wir als behinderte Menschen sichtbarer werden. In unserer ganzen Vielfalt. In all dem, was wir können und wissen und wollen. Ganz ohne dieses Trotzdem. Wir gehören dazu, und wir sind viele.

malu@philopost.ch