«Sucht ist ein multifaktorielles Problem»

Seit drei Jahren gibt es den Dry January offiziell auch in der Schweiz. Bewusster Konsum oder Verzicht von Alkohol wird zunehmend zum Thema. Sharon Katz und Conny Muff beraten für das BZB plus Menschen, die an einer Abhängigkeitserkrankung leiden.
Conny Muff und Sharon Katz sind seit Jahrzehnten in der Suchtberatung tätig. (Bild: sim)

Das Beratungszentrum Bezirk Baden (BZB plus) an der Mellingerstrasse 30 in Baden ist sowohl eine Kinder-, Jugend- und Familienberatungsstelle als auch Anlaufpunkt für Menschen mit einer Abhängigkeit und deren Angehörige. Die stellvertretende Geschäftsleiterin Sharon Katz und die Suchtberaterin Conny Muff sind beide seit Jahrzehnten in diesem Bereich tätig. Im Interview erzählen sie aus ihrem Arbeitsalltag und geben Einblick in die Schwierigkeiten der Suchtberatung.

Sharon Katz, Conny Muff, ist im BZB plus der Dry January bei den Beratungen ein Thema?
Sharon Katz: Nach meiner Erfahrung meldet sich kaum jemand explizit wegen des Dry January bei uns. Es ist unter Klientinnen und Klienten aber durchaus ein Gesprächsthema. Ich spreche sie manchmal von mir aus darauf an. Ich kläre auf und weise auf die Vorzüge dieser Kampagne hin.

Conny Muff: Ich benutze den Dry January, wenn es zum aktuellen Prozess des Klienten passt. Wenn sich beispielsweise jemand ohnehin vorgenommen hat, auf Alkohol zu verzichten oder gar abstinent leben möchte. Der Fokus ist stets darauf gerichtet, den Klienten dort abzuholen, wo er gerade steht, und ihn in seinem Prozess professionell begleiten zu können.

Sehen Sie ausserhalb Ihrer Zielgruppe gesellschaftliche Vorteile in der Aktion?
Katz: Es schadet auf keinen Fall, einmal über die eigenen Konsummuster nachzudenken. Der Dry January regt dazu an. Gerade der kollektive Charakter kann für einige Leute motivierend wirken.

Muff: Der Dry January gehört sicher zu den sinnvolleren Aktionen dieser Art. Der Januar bietet sich an, da viele Anlässe und Feiertage im Dezember stattgefunden haben. Wie Sharon Katz bereits ausgeführt hat, eignet sich der Jahresanfang deshalb gut, um über das eigene Trinkverhalten nachzudenken.

Verzicht bei sozialen Anlässen führt oft zu Reaktionen des Umfelds. Was raten Sie Menschen, die sich damit konfrontiert sehen?
Muff: Das kommt auf die Art des Anlasses an. Wenn ich mir einfach ein Glas vom Buffet nehmen kann, wirft das in der Regel weniger Fragen auf, als wenn im engen persönlichen Bekannten- und Familienkreis Alkohol eingeschenkt wird. Wir ermutigen die Menschen dazu, ihrem Umfeld gegenüber transparent zu sein, und die meisten Klientinnen und Klienten machen damit gute Erfahrungen. Aber auch dieses Thema muss im Einzelfall angeschaut und mit den Betroffenen thematisiert werden.

Katz: Das Umfeld einer Person sollte nicht der Grund dafür sein, trotz gegenteiliger Absicht zu trinken. In meiner Arbeit treffe ich immer wieder Klienten und Klientinnen, die bestimmte Anlässe meiden, aus Angst vor der Reaktion auf ihren Alkoholverzicht. Ich bin in der Regel für Offenheit und motiviere die Leute dazu, bei der Wahrheit zu bleiben.

Muff: In den Sitzungen überlege ich gemeinsam mit den Klientinnen und Klienten, welche Getränke sie ausser Alkohol gern mögen. Mit einem farbenfrohen alkoholfreien Cocktail lässt sich freudvoller anstossen, als mit einem Glas Wasser.

Lassen Sie uns kurz den Alkohol zurückstellen. Mit welchen Formen von Sucht haben Sie beim BZB plus normalerweise zu tun?
Katz: Wir sind für alle Arten von Sucht zuständig. Sowohl im stoffgebundenen als auch im stoffungebundenen Bereich.

Muff: Der grösste Teil unserer Klientel hat nach wie vor Probleme mit dem Alkoholkonsum.

Katz: Die Meldungen im Zusammenhang mit Kokain haben in den letzten Jahren zugenommen. Die Fallzahlen wegen Opioiden wie Heroin sind dagegen drastisch gefallen.

Wie erklären Sie sich diese Verschiebung?
Muff: Das hat wohl mit gesellschaftlichen Veränderungen zu tun. In der Zeit nach 1968 waren Substanzen wie Heroin eher angesagt. Abzuhängen als Protest gegen gesellschaftliche Konventionen war damals weitverbreitet. In einer leistungsorientierten Gesellschaft wie heute sind Substanzen wie Kokain eher angesagt.

Substanzen, die einen weniger produktiv machen, entsprechen also einfach nicht mehr unserer Zeit?
Katz: Das ist natürlich etwas überspitzt formuliert. Cannabis beispielsweise macht nicht unbedingt produktiver und ist trotzdem sehr gesellschaftsfähig.

Muff: Wie gesagt, das ist eine Tendenz, die sich wieder ändern kann. In den USA beispielsweise sind Opiate ein brandaktuelles Thema.

Sie sprachen vorhin vom stoffungebundenen Bereich. Was bedeutet das?
Katz: In diesem Bereich haben Fälle im Zusammenhang mit Medienkonsum sehr zugenommen. Viele Eltern fragen zum Beispiel, wie sie mit dem Social-Media-Konsum oder dem Gaming-Verhalten ihrer Kinder umgehen sollen.

Muff: Es gibt einzelne Fälle im Zusammenhang mit Pornografie, Kaufsucht und Essstörungen. Ein grösseres Thema ist hingegen der Bereich Spielsucht. Wir bieten auch Beratung und Therapie für Angehörige von Menschen, die von einer Suchtthematik betroffen sind, an. Oft leiden Angehörige stark unter der Suchterkrankung einer nahestehenden Person. Es ist wichtig, dass diese Menschen eine Anlaufstelle haben und professionell begleitet werden.

Katz: Stimmt. Angehörigenberatung stand früher weniger im Fokus, hat aber in den letzten Jahren stark zugenommen. Das ist deshalb wichtig, weil sich Verhaltensänderungen bei Angehörigen erfahrungsgemäss auf das Verhalten Betroffener auswirken.

Zum Thema Sucht stiess ich auf den Ansatz «kontrolliertes Trinken». Die Methode gilt als umstritten. Wie gehen Sie im BZB plus damit um?
Muff: Stimmt, der Ansatz ist umstritten.

Katz: Unter den Fachleuten ist die Methode inzwischen salonfähig. Ganzheitlich betrachtet finde ich es eine wichtige Option der Behandlung. Viele Klientinnen und Klienten, die zu uns kommen, haben nicht das Ziel der Abstinenz. Kontrolliertes Trinken kann ein Teil des Begleitungsprozesses sein. Die Betroffenen merken oft selbst, dass der Ansatz bei ihnen nicht funktioniert, und wählen als nächsten Schritt die Abstinenz. Beim kontrollierten Trinken geht es um klar definierten Konsum im Sinne von, wann trinke ich, weshalb und wie viel? Kontrollierter Konsum wird meiner Meinung nach unterschätzt. Während des Konsums immer wieder zu entscheiden, dass jetzt genug ist, macht es nicht einfach. Die Entscheidung für die Abstinenz zu treffen, ist anfangs schwer, in der Umsetzung wird es meist einfacher erlebt.

Kommt es dabei auf die Schwere der Sucht an?
Muff: Auf jeden Fall. Wenn jemand früh zu trinken beginnt und mit 50 zu uns kommt, sind die Aussichten auf Erfolg für das kontrollierte Trinken gering. Falls jemand noch nicht so lang mit einem zu hohen Alkoholkonsum zu kämpfen hat, sind die Erfolgsaussichten viel grösser. Oft ist es auch ein Zwischenschritt für den Klienten zur totalen Abstinenz.

Wie ist die Suchtberatung im Kanton Aargau aufgebaut?
Katz: Das Beratungsangebot ist dezentral organisiert. Die Aargauische Suchtberatung (AGS) hat sieben Standorte im Kanton. Wir sind die einzige Institution unter dem Träger BZB plus. Wir haben aber den gleichen Leistungsauftrag mit dem Kanton, und alle Beratungsstellen sind für den ganzen Aargau zuständig. Was uns speziell ausmacht, ist, dass wir gleichzeitig eine Kinder-, Jugend- und Familienberatungsstelle sind. Wir haben unter dem gleichen Dach zwei unterschiedliche Bereiche: die Suchtberatung und die Familienberatung. Der Vorteil ist, dass wir überlagernde Probleme direkt bei uns beraten können.

Welches Volumen an Suchtberatungen fällt beim BZB plus in der Regel jährlich an, und wie hat sich das in den letzten Jahren entwickelt?
Katz: Ich habe mir die Zahlen im Suchtbereich aus dem Jahr 2023 angeschaut. Dazu möchte ich sagen, dass die Fallzahlen nur ein Teil der Aussage sind. Manchmal ist ein Fall so komplex, dass der fachliche Aufwand gross ist und viel Zeit in Anspruch nimmt. Die Zahl der Beratungsgespräche gibt also besser Auskunft über die tatsächliche Arbeit, die wir hier leisten. Letztes Jahr hatten wir 1712 persönliche und 659 digitale Beratungen. In den letzten ungefähr fünf Jahren haben sich die Fallzahlen nicht wesentlich verändert. Die Anzahl Beratungsgespräche hat tendenziell zugenommen.

Welche Faktoren führen zu Sucht, und sind Menschen, die ein suchtartiges Verhalten zeigen, für andere Süchte anfälliger?
Katz: In der Theorie hängt Sucht im Wesentlichen von drei Faktoren ab: von der Person, der Substanz sowie vom Umfeld. Es spielt eine Rolle, wie eine Person aufwächst, welche Prägungen und Dispositionen vorliegen, was sie einnimmt und so weiter. Ich bin vorsichtig mit der Aussage «einmal süchtig, immer süchtig». Das muss nicht sein. Das Potenzial, von einer Sucht in eine andere zu geraten, ist bei Menschen mit einer Abhängigkeit tendenziell erhöht. Sucht dient in der Regel dazu, etwas zu unterdrücken. Wenn eine Substanz oder ein exzessives Verhalten nicht mehr zur Verfügung steht, ist es naheliegend, es mit einer anderen Substanz oder einem anderen Verhalten zu kompensieren. Pauschale Aussagen zu machen, finde ich aber heikel. Es ist sehr individuell.

Muff: Es gibt Krankheiten oder Lebensbedingungen, die eine Suchterkrankung begünstigen können: Beispielsweise hat jemand, der unter einem nicht behandelten ADHS leidet, eine höhere Wahrscheinlichkeit, eine Suchtkrankheit zu entwickeln. Der Konsum von einer Substanz ist dann als Selbstmedikation zu verstehen, der helfen soll, besser mit dem ADHS umzugehen.

Gibt es dabei eine gesellschaftliche Komponente?
Muff: Ja, Sucht ist nicht nur ein individuelles, sondern ein gesamtgesellschaftliches Thema. Was für ein Selbstbild ein suchterkrankter Mensch hat, hängt stark damit zusammen, welche Haltung die Gesellschaft zur jeweiligen Sucht hat. In meiner Jugend war ganz normal, dass überall geraucht wurde. Selbst im Fernsehen bei politischen Diskussionen wurde geraucht. Heute darf man an vielen öffentlichen Orten überhaupt nicht mehr rauchen, und das Rauchen hat viel weniger Akzeptanz in der Gesellschaft.

Hatten die Coronapandemie und die damit verbundenen Lockdowns spürbare Auswirkungen auf Ihre Arbeit?
Katz: Die Inhalte der Beratungen wurden alles in allem etwas komplexer. Bezüglich der Anzahl Neumeldungen gab es interessanterweise kaum Auswirkungen nach oben. Wir rechneten damit, dass wir die Auswirkungen ein paar Jahre nach der Pandemie spüren würden. Das ist bis jetzt nicht markant geschehen. Wer weiss, vielleicht braucht es mehr Zeit, bis wir die Auswirkungen eines solchen Ereignisses spüren. Im Jugendbereich sieht das anders aus. Die Fallzahlen haben sich wegen psychischer Belastungen, aber auch medialer Nutzungen massiv erhöht. Der auferlegte Rückzug hat bei jungen Menschen sehr viel bewirkt und entsprechende Folgen zutage gebracht.

Gibt es Unterschiede bei der Behandlung verschiedener Arten von Suchterkrankungen und worin liegen diese?
Katz: Für die Art der Beratung ist unter anderem entscheidend, was die Ursache für die Sucht ist. Wenn der Sucht ein psychisches Krankheitsbild zugrunde liegt, gehen wir die Beratung anders an, als wenn jemand die Leere nach der Pensionierung mit süchtigem Verhalten kompensiert.

Muff: Der Behandlungsansatz hängt von verschiedenen Faktoren ab. Beispielsweise verfügen Menschen, die eine Suchterkrankung mit Substanzen im legalen Bereich aufweisen, oft über ein soziales Umfeld und eine Arbeitsstelle. Menschen, die eine Suchterkrankung mit Substanzen im illegalen Bereich aufweisen, fallen in der Regel schneller aus dem sozialen Gefüge. So sind die Themen, die Betroffene beschäftigt, unterschiedlich. Auch wichtig ist, abzuklären, ob eine Suchtbehandlung ambulant durchgeführt werden kann oder ob zuerst ein stationärer Aufenthalt vonnöten ist.

Die Schweiz setzt in der Suchtpolitik auf die vier Säulen Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression. Erachten Sie diesen Ansatz als adäquat für den Umgang mit Sucht?
Katz: Grundsätzlich gilt das 4-Säulen-Modell als vorbildlich. Jede der Säulen hat ihre Funktion und ihre Berechtigung, denn betroffene Menschen können dadurch in den verschiedenen Phasen der Sucht erreicht werden. Nichtbetroffene sollen damit vor Suchterkrankungen geschützt werden, beispielsweise durch Prävention. Im Aargau ist das Thema Schadensminderung gerade ein Thema, weil es in dieser Säule nur sehr wenig Angebote gibt. Kurz gesagt: Es braucht alle vier Säulen zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Massen.