Rosmarie Hubschmid, morgen am 8. März ist Internationaler Tag der Frauen. Was halten Sie als Leiterin des Frauenhauses Aargau-Solothurn von einem solchen Symboltag?
Mit Symboltagen wie dem 8. März oder dem Welttag des Mannes am 19. November habe ich generell Mühe. Positiv daran ist aber, dass weltweit Verschiedenes gemacht wird. Ob das Demonstrationen sind oder politische Bemühungen. So fühle ich mich am 8. März in etwas Grösseres eingebunden, das uns alle betrifft.
Sie sind die Leiterin der Stiftung Frauenhaus Aargau-Solothurn. Welchen Beweggrund gab es für Sie als ausgebildete Sozialarbeiterin, sich beruflich gerade dort zu engagieren?
Ich leite das Frauenhaus Aargau-Solothurn seit drei Jahren. Es ist das dritte Frauenhaus, in dem ich arbeite. Das Thema Gewalt an Frauen und häusliche Gewalt ist seit über 30 Jahren ein Schwerpunkt in meiner beruflichen Tätigkeit. Ich engagiere mich für einen besseren Schutz von Gewaltbetroffenen, weil Gewalt Beziehungen zerstört und weil Gewalt gegen Frauen in Ehe oder Partnerschaft lange Zeit als Privatsache galt und die Betroffenen allein gelassen wurden.
Nebst der individuellen Unterstützung, die Frauenhäuser leisten, ist Gewalt gegen Frauen ein Problem, das die gesamte Gesellschaft betrifft.
Gewalt gegen Frauen hat eindeutig eine gesellschaftspolitische Dimension. Deshalb ist es wichtig, dass Verhinderung, Verminderung und Bekämpfung von Gewalt an Frauen dort ansetzen. Wir sind als Zivilgesellschaft gefordert.
Das Frauenhaus Aargau-Solothurn ist für den ganzen Kanton Aargau zuständig. Seine Adresse ist geheim. Wie findet der Erstkontakt für von häuslicher Gewalt betroffene Frauen mit und ohne Kinder statt?
Der erste Kontakt passiert über Telefon oder das Internet. Betroffene erhalten die Telefonnummer auch von der Polizei, von Beratungsstellen, von Freunden, von Verwandten und manchmal von unseren Mitarbeitenden. Wir sind 24 Stunden telefonisch erreichbar, und Aufnahmen sind rund um die Uhr möglich. Am Telefon klären wir die akute Gewalt- und Bedrohungssituation der Anrufenden ab.
Wie viele betroffene Frauen melden sich pro Woche bei Ihnen?
Im Jahr 2022 haben wir 171 telefonische Beratungen vorgenommen. Pro Woche waren das demnach mehr als drei Anrufe.
Das Bundesamt für Statistik veröffentlicht Zahlen zu häuslicher Gewalt. Im Jahr 2022 wurden von der Polizei 19 978 Straftaten im häuslichen Bereich registriert. Das entspricht einer Zunahme von 3,2 Prozent gegenüber dem Jahr davor, also 637 mehr Straftaten. Was sagen diese Zahlen wirklich aus?
Ich bin froh, wenn die häusliche Gewalt aus dem Schatten tritt und sich das in Zahlen zeigt. Die Polizei leistet im Bereich der häuslichen Gewalt eine wichtige Arbeit, und im Gegensatz zu früher ermittelt sie, statt zu vermitteln. Diese Zahlen zeigen, dass es Prävention braucht, damit wir alle für diese Problematik sensibilisiert sind. Es braucht qualifizierte Angebote für gewaltausübende Personen. Täterarbeit dient dem Opferschutz.
Längst nicht alle Fälle werden gemeldet. Wie hoch schätzen Sie die Dunkelziffer?
Häusliche Gewalt nimmt seit Jahren zu. Um das Phänomen besser greifen und beziffern zu können, hat Nora Markwalder, eine Strafrechtsprofessorin an der Universität St. Gallen (HSG), in einer gemeinsamen Studie mit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) diese Dunkelziffer ausgeleuchtet. Dabei wurde nicht nur physische Gewalt, sondern auch psychische, soziale und wirtschaftliche Gewaltformen untersucht. Die Studie besagt, dass gerade bei häuslicher Gewalt von einer grossen Zahl nicht erfasster Fälle ausgegangen werden kann. Von den Resultaten war Markwalder selbst überrascht: Die Auswertungen zeigten, dass 22 Prozent aller Personen mindestens einmal im Leben von einer Form von Gewalt in der Partnerschaft konfrontiert sind. Betroffen sind also breite Kreise der Bevölkerung.
Die Auswirkungen und vor allem die Folgen von häuslicher Gewalt sind auch finanziell messbar.
Ja. Gewalt in Partnerschaften verursacht vielschichtige gesundheitliche und soziale Folgen. Für die Schweiz fallen laut der vorhin erwähnten Studie jährlich zwischen 164 und 287 Millionen Franken an volkswirtschaftlichen Folgekosten an.
In der Schweiz leben schätzungsweise 24 600 Frauen und Mädchen, die von Genitalverstümmelung betroffen oder dieser Gefahr ausgesetzt sind. Kommen diese Mädchen und Frauen ebenfalls zu Ihnen?
Wir haben keine Betroffenen, die wegen einer Bedrohung von Genitalverstümmelung Schutz bei uns suchen müssen. Es kommt aber vor, dass wir von einer von häuslicher Gewalt Betroffenen während ihres Aufenthalts im Frauenhaus erfahren, dass ihr Genitalverstümmelung widerfahren ist.
Im Durchschnitt brachte letztes Jahr in der Schweiz alle zwei Wochen ein Mann eine Frau um. Fast alle Opfer haben ihren Mörder vor der Tat gekannt. Die Frauen starben im häuslichen Bereich, dort, wo sie sich sicher fühlten. Sie alle sind Opfer eines Femizids geworden: eines Tötungsdelikts an einer Frau, einem Mädchen oder an einer als Frau gelesenen Person. Werden Männer gewaltbereiter?
Ich kann das nicht beantworten. Mir fällt auf, dass es nebst der Sensibilisierung zu Gewalt an Frauen, Mädchen und Kindern eine weitere Welle gibt: Frauenhass. Es gibt Onlineforen, in denen der Hass gegen Frauen geschürt wird. Männer, die sich aufgrund der Gleichberechtigung unfair behandelt fühlen. Sie fühlen sich als Ofer der gesellschaftlichen Veränderung, und ich denke, dass das von den Akteuren in diesen Foren bewusst geschürt wird.
Das Frauenhaus Aargau-Solothurn hat auch Prävention im Programm. Wie sieht das aus – und merkt man eine Verbesserung für Frauen aufgrund der Prävention?
Wir stärken die Kinder im Frauenhaus. Wir entlasten sie von Schuldgefühlen, wir bieten ihnen Unterstützung bei der Verarbeitung und zeigen Wege für gewaltlose Konfliktlösungen auf. Wir sensibilisieren Interessierte für das Thema und vernetzen uns diesbezüglich mit anderen Fachstellen. Für eine Verbesserung der Betroffenen braucht es verschiedene Massnahmen. Prävention ist eine davon.
Hat die Gewaltbereitschaft mit dem kulturellen oder sozialen Hintergrund zu tun und mit tradierten Frauenbildern, die zu eng geworden sind?
Gewalt gegen Frauen hat aus meiner Sicht verschiedene Hintergründe. Häusliche Gewalt kann sich in subtilen Formen psychischer Gewalt manifestieren, wie gezieltem Abwerten, Einschüchtern, Drohen oder dem Unterbinden sozialer Kontakte. Gewalthandlungen kommen oft nicht isoliert vor, sondern sind Bestandteil eines Handlungsmusters. Diese wiederum haben mit den Mustern von situativer, also punktueller, oder systematischer Gewalt zu tun. Zu den Gewaltformen gehören nebst körperlicher und sexueller Gewalt zudem psychische Gewalt, Stalking und Zwangsheirat und Zwangsehe.
Je patriarchischer ein System aufgebaut ist und sich verstetigt hat, umso eher wird Gewalt an Frauen akzeptiert. Würden Sie dem zustimmen?
Dem kann ich zustimmen. Ich würde sagen, dass ein patriarchales System Gewalt gegen Frauen begünstigt, da es auf Ungleichheit aufgebaut ist. Ein solches System ist aber grundsätzlich starr, und bei Veränderungen geht es deshalb immer um Verschiebungen und um das Offenlegen von Machtverhältnisse.
Das Frauenhaus Aargau-Solothurn finanziert seinen Betrieb nur mit Spendengeldern. Kommt genug zusammen für den Unterhalt?
Wir sind hauptsächlich subjektfinanziert. Das heisst, dass wir pro Tag, pro Frau und Kind eine Tagespauschale erhalten. Diese deckt aber nicht den ganzen Aufwand, also zum Beispiel nicht die Freizeitaktivitäten, die Gartengestaltung, spezielle Spielgeräte, Einrichtungsgegenstände. Um die Bereithaltungskosten als 24-Sunden-Betrieb zu erhalten, sind wir auf Spenden angewiesen.
Die ersten 35 Tage und bis zu 44 Tagen sind über die Opferhilfe finanziert. Seit wann besteht diese Zusammenarbeit mit der Opferhilfe?
Das Opferhilfegesetz wurde 1993 eingeführt und damit auch die Beratungsstellen. Seither gibt es zwischen den ambulanten und stationären Angeboten eine Zusammenarbeit. Im Aargau arbeiten wir ausserdem mit der Anlaufstelle gegen häusliche Gewalt (AHG) zusammen.
Letztes Jahr feierte das Frauenhaus Aargau-Solothurn sein 40-Jahr-Jubiläum. Welchen Wandel brauchte es in der Gesellschaft, damit vielleicht ein 60-Jahr-Jubiläum gar nicht mehr gefeiert würde?
Eine veränderte Gesellschaft, die weniger auf Macht beruht, dafür mehr auf Kompromiss. Die Anerkennung des Andersseins, ohne sich bedroht zu fühlen. Ich finde Rollenzuschreibungen hinderlich und wünschte mir mehr Mut von uns allen, eigene Bilder loszulassen. Häusliche Gewalt auszuüben, muss auf verschiedene Weise sanktioniert werden und darf sich nicht «lohnen». Auch soziale Gerechtigkeit, die zu weniger Armut und Benachteiligung führt, ist ein wichtiger Faktor, um die Lage für Frauen und Kinder zu verbessern.
Sie schreiben diesem Mut eine grosse Kraft für Veränderung zu.
Ja. Damit erreichen wir Verbesserungen, von denen alle etwas haben. Wenn wir uns genau hier engagieren, machen wir die Welt zu einem besseren Ort.
Frauenhaus Aargau-Solothurn
062 823 86 00 (24 Stunden erreichbar), www.frauenhaus-ag-so.ch