Ihr Blick aus den ausdrucksstarken blauen Augen hat etwas Tiefgründiges, und mit ihren 21 Jahren strahlt Elena Neuhaus eine ungewöhnliche Reife aus. Sie hinterfragt gern das Motiv, warum jemand etwas tut oder sagt, bevor sie vorschnell über ihr Gegenüber urteilt. Weil sie einmal einen Beruf ergreifen möchte, in dem sie intensiv und direkt mit Leuten zu tun hat, studiert sie im zweiten Semester Psychologie. «Für mich ist es ungeheuer spannend, den Menschen in seiner ganzen Komplexität zu erforschen», bekundet sie. Neuhaus ist mit zwei Geschwistern in Ehrendingen aufgewachsen, wo sie heute noch wohnt.
Ihre Kindheit bezeichnet sie als glücklich und behütet. «Ich liebe das dörfliche Leben. Früher spielte ich viel draussen und streifte durch die Natur.» Ihr Vater Roger ist geschäftsleitend in einer Elektrotechnikfirma tätig. Auch materiell mangelte es ihr bisher nie an etwas. Früh brachten ihr die Eltern jedoch bei, nichts als selbstverständlich hinzunehmen und mit allen Lebewesen respektvoll umzugehen. «Die komfortable Ursprungssituation, in welche die meisten Schweizerinnen und Schweizer hineingeboren wurden, ist kein Eigenverdienst. Wir hatten einfach nur ganz viel Glück in diesem Leben und sind nicht besser als andere, denen es nicht so ergeht», ist sie überzeugt.
Seit eineinhalb Jahren leistet sie Freiwilligenarbeit beim Aargauer Jugendrotkreuz. Neuhaus organisiert mit anderen Volunteers sogenannte Inputabende für junge Migrantinnen und Migranten, die alle zwei Wochen in Aarau stattfinden. «Wir kochen, töpfern, zeichnen, machen zusammen Sport oder gehen ins Theater. Das Angebot an mentalen, körperlichen und kreativen Aktivitäten ist gross, und es geht in erster Linie darum, gemeinsam eine gute Zeit zu verbringen.» Dabei sei wie bei allen Projekten des Schweizerischen Roten Kreuzes des Kantons Aargau wichtig, allen Menschen auf Augenhöhe zu begegnen und sie gleichwertig zu behandeln. So, wie es ihr ihre Eltern vorgelebt haben. «Wir betrachten uns als Gruppe von Gleichgesinnten, die auf freundschaftlicher Basis zusammenkommen», erklärt Neuhaus. Die Männer und Frauen zwischen 15 und etwa 35 Jahren, die zurzeit die Inputabende besuchen, stammen aus aller Welt. Oft liegt ihrer Flucht in die Schweiz politische Unterdrückung zugrunde. «Ihre Schicksale stehen bei den Treffen jedoch meist nicht im Vordergrund, sondern ganz Alltägliches und Praktisches. Wir bieten ihnen ein Stück Normalität in ihrer oft ungewöhnlichen und schwierigen Lebenssituation.»
Jeder kann helfen
Die Arbeit beim Aargauer Jugendrotkreuz ist nicht der erste Freiwilligeneinsatz von Elena Neuhaus. Nach ihrem Kantonsschulabschluss reiste sie für sieben Monate nach Kisumu in Kenia und engagierte sich dort in einem Tagesschulprojekt der Organisation Better me für die Kinder vor Ort. «Diese Arbeit hat mir in vielerlei Hinsicht die Augen geöffnet. Zum Beispiel, wie unglaublich dankbar ich sein kann, dass ich überhaupt eine Ausbildung machen darf. Es gibt viel Gutes um uns herum, das wir einfach als selbstverständlich hinnehmen, statt es als Bereicherung und Privileg zu erkennen.» Im Herbst möchte sie in den Ferien wieder an den Ort ihres Wirkens reisen. «Ich habe dort Kontakte geknüpft, die ich weiterhin pflegen möchte.» Sie freut sich jetzt schon auf ihre Rückkehr nach Ostafrika, hat sich aber in der Zeit dort auch Gedanken über ihr Engagement im Ausland gemacht. «Nach meiner Rückkehr habe ich den Entschluss gefasst, mich in einem einheimischen Projekt nützlich zu machen. Hilfe ist überall vonnöten. Auch in der Schweiz», erzählt die junge Frau. Schnell stiess sie auf das Schweizerische Rote Kreuz des Kantons Aargau, das viele Angebote für verschiedenste Zielgruppen hat. «Aufnahmebedingungen gab es keine. Nach einem Gespräch mit einer Mitarbeiterin des Schweizerischen Roten Kreuzes über meine Motivation war ich dabei», erzählt Neuhaus. Das fand sie sympathisch. Denn Helfen ist für sie an keine Bedingungen gebunden. «Jeder, der motiviert ist, kann Gutes tun. Geschlecht, Alter oder Herkunft spielen keine Rolle», findet sie und fügt hinzu: «Das fängt mit kleinen Dingen an. Zum Beispiel jemandem beim Einsteigen in den Zug zu helfen.»
Ziel und Traum
Statt Tagebuch zu führen, hält Elena Neuhaus ihren Alltag in Zeichnungen fest. Ihr grosser Traum ist es, einmal ein Kinderbuch zu illustrieren. Und sie hat es sich fest zum Ziel gesetzt, ihr Psychologiestudium gut abzuschliessen. An ihrem Hals baumeln ein kleines silbernes Kreuz und ein Naturstein aus Kenia, eine verspielte Kette aus bunten Plastikperlen, die ihr zwölf Jahre jüngerer Bruder gebastelt hat. «Er hat sie mir als Willkommensgeschenk gegeben, als ich von Afrika in die Schweiz zurückkam. Seither habe ich diesen Schmuck nicht abgelegt», sagt sie und strahlt dazu.