«Chris Martin von Coldplay winkte mir zu»

Die Bieler Singer-Songwriterin Caroline Alves, die 2021 den Swiss Music Award gewann, ist nun Headlinerin des Wettinger Open Air.
Mit Fleiss und Geduld hat sich Caroline Alves in der Musikszene etabliert. (Bild: zVg)

Caroline Alves, Sie stammen aus Brasilien, haben in Biel Französisch gelernt und singen auf Englisch. Welches ist Ihre Sprache?
Meine Muttersprache ist nach wie vor Portugiesisch, weil ich es mit meiner Familie spreche und am besten beherrsche. Französisch ist mir ebenfalls sehr vertraut, und Englisch ist meine Herzenssprache, weil ich stets englischsprachige Musik höre und sie mich inspiriert hat, selbst auf Englisch zu schreiben.

Haben Sie den Eindruck, dass Sie Ihre musikalische Sprache bereits gefunden haben?
Ich denke schon, weil ich anderes ausprobierte und spürte, dass ich das nicht bin. (Lacht.)

Können Sie beschreiben, was Sie ausdrücken möchten?
Ich singe über die schwierigen Dinge im Leben. Aber meine Lieder enthalten immer einen Hoffnungsschimmer und animieren dazu, den Mut nicht zu verlieren und niemals aufzugeben. Die Texte basieren auf meinen eigenen Erfahrungen, aber ich glaube, dass sich alle in ihnen wiedererkennen können. Die Musik und mein Gesang sind sehr ruhig, denn in der Ruhe liegt die Kraft.

Gibt es Kunstschaffende, die für Sie wichtig waren oder sind?
Als ich erst Gitarre spielte, waren es Rockbands wie Nirvana und Red Hot Chili Peppers, später Nina Simone, Amy Winehouse und Erykah Badu. Zuerst dachte ich, ich könnte überhaupt nicht singen, weil mir die Gesangstechnik fehlte, aber dann brachten mich die ganz unterschiedlichen Stimmen dieser drei Frauen auf die Idee, dass ich meinen eigenen Stil entwickeln könnte.

Wie sind Sie auf diese Künstlerinnen aus Jazz, Blues und Soul gekommen?
Mit 12 oder 13 Jahren war ich viel auf Youtube unterwegs und habe ganz verschiedene Musik kennengelernt. Ich erinnere mich, wie ich auf die Beatles stiess und dachte, ich wäre die erste Person auf der Welt, die sie entdeckt hätte. Ich war so beeindruckt und glücklich. (Lacht.)

Gibt es brasilianische Einflüsse?
Ich liebe Bossa nova. Ein Onkel, der professioneller Musiker war, hat ihn immer gehört, und eines der Schlaflieder, die mir meine Grossmutter vorsang, war der Klassiker «Águas de Março» von Tom Jobim. Ausserdem bin ich mit dem Baile-Funk aufgewachsen, der aus den Favelas stammt. Vielleicht ist das manchmal der Stimmung, den Akkorden oder dem Rhythmus meiner Songs anzuhören.

War es hart, in einer Favela von Rio de Janeiro aufzuwachsen?
Natürlich war es eine ganz andere Kindheit, als man sie in der Schweiz kennt. Man erlebt Gewalt und sieht einige Dinge, die man nicht sehen sollte. Ich habe aber auch viele schöne Erinnerungen. Was mir am meisten gefiel und was ich nach wie vor spüre, wenn ich dort Ferien mache, ist das ausgeprägte Gemeinschaftsgefühl. Man spricht miteinander und ist sich nahe. Mit einem Cousin bin ich eigentlich gar nicht verwandt, ich nenne ihn nur so, weil ich mich ihm sehr verbunden fühle.

Wie reagierten Sie, als Ihre Mutter Ihnen eröffnete, dass Sie in die Schweiz ziehen würden?
Oh, ich wollte überhaupt nicht mitkommen. Ich sagte meiner Mutter, ich würde mir eine Packung meiner Lieblingskekse kaufen, mich in meinem Zimmer einschliessen und nie wieder herauskommen. (Lacht.) Ich wollte den Ort, an dem meine Freunde und meine ganze Familie lebt, speziell meine Grossmutter, die sich um mich gekümmert hat, nicht verlassen.

Trotzdem zogen Sie am Ende um.
Meine Mutter hat stets versucht, die Favelas und die Armut hinter sich zu lassen. Als sie einen Schweizer kennenlernte, sah sie das als grosse Chance für uns beide und war bereit, dafür eine neue Sprache zu lernen und sich auf eine andere Kultur einzulassen. Heute bin wirklich froh, dass sie es getan hat.

Wie verlief Ihr Start in der Schweiz?
Zuerst war ich geschockt, da es in Brasilien 40 Grad warm und die Strassen in der Schweiz schneebedeckt waren, als wir im Januar ankamen, aber dann half mir das gute System, das ausländischen Kindern hilft, sich in Biel zu akklimatisieren. So lernte ich zuerst Französisch, bevor ich in normale Klassen integriert wurde. Jetzt bin ich hier glücklich und nicht sicher, ob ich für immer nach Brasilien zurückkehren könnte.

Die Stadt Biel ist für ihre Zweisprachigkeit bekannt. Wie steht es mit Ihren Deutschkenntnissen?
Da der Mann meiner Mutter aus der Westschweiz stammt, versuchten wir, zu Hause möglichst Französisch zu sprechen. Obwohl es schwierig genug war, diese Sprache zu lernen, versuchte ich es mit Deutsch, aber das ist noch schwerer. Ich verstehe es inzwischen besser, aber das Sprechen fällt mir schwer.

Spielte die Musik beim Knüpfen von Kontakten eine Rolle?
Nachdem ich Gitarre spielen gelernt und meine ersten Songs geschrieben hatte, überlegte ich, ob ich sie im Internet veröffentlichen sollte, wie das heute üblich ist. Doch ich fürchtete mich vor bösartigen Kommentaren, die dort gepostet werden können. Also kaufte ich mir mit 16 Jahren ein Generalabonnement und trat am Wochenende als Strassenmusikerin in Städten wie Zürich, Bern, Lausanne oder Locarno auf. So bekam ich ein viel direkteres Feedback von einem Publikum, das für meine Musik stehen blieb, und verdiente dabei erst noch etwas Geld. Bei den vielen Gesprächen knüpfte ich zudem Kontakte mit Medienleuten, Plattenlabels und Menschen, die fragten, ob ich in ihren Bars oder Cafés spielen möchte.

Ein paar Jahre später lud man Sie bereits ein, im Vorprogramm von Coldplay im Letzigrundstadion aufzutreten …
Ja, das war völlig verrückt. Als ich letztes Jahr im Februar die Anfrage bekam, ob ich im Juli dort spielen möchte, konnte ich es nicht glauben. Weil ich dachte, dass sie sicher noch viele andere Künstler fragen, sagte ich sofort zu und kontrollierte dann jeden Tag nervös meine E-Mails, weil ich befürchtete, dass sich jemand einen Spass mit mir erlaubt hatte. Da ich das Konzert für mich behalten musste, bis die Band es kommuniziert, und sie noch nicht wusste, wann das sein würde, bibberte ich letztlich zwei Monate.

Wie haben Sie es dann erfahren?
Ich wollte mir abends etwas kochen und suchte im Netz nach einem Rezept. Als ich auf Instagram die Nachricht «Coldplay hat dich in einem Beitrag erwähnt» entdeckte, fiel mir mein Handy aus der Hand, und ich fing an zu weinen.

Und das waren nicht nur Freudentränen?
Nein, es war so surreal, da ich gar nie davon geträumt hatte, in einem Stadion aufzutreten, und ich hatte Angst. Erst als ich hart an mir gearbeitet hatte, fühlte ich mich für die Konzerte bereit.

Nervös waren Sie wohl trotzdem?
Natürlich. Vor allem weil ich mich vor zwei Dingen fürchtete: vor einem technischen Problem, dass mein Mikrofon oder meine In-Ear-Monitore nicht funktionieren würden, und davor, dass – und das ist sehr albern – beim Vorprogramm erst ein paar Hundert Leute im Stadion sein würden. Tatsächlich war der Letzigrund voll und die Stimmung toll. Es wurden sogar brasilianische Flaggen und Schilder mit meinem Namen geschwenkt. (Strahlt.)

Wie nahe sind Sie Coldplay gekommen?
Ich habe sie nicht getroffen, aber ich hatte einen Backstage-Zugang. Als die Band auf die Bühne ging, schaute Sänger Chris Martin bei einem der Konzerte kurz zurück und winkte mir zu. Das war sehr sympathisch.

Sind ihre zwei letzten Singles von der Coldplay-Erfahrung inspiriert?
Mit der Ballade «Where The Hell Have You Been» bin ich bei meinem Stil geblieben, aber «Alright» ist fröhlicher, positiver und fürs Publikum leichter zugänglich. Ich versuche, mir beim Schreiben nun öfter vorzustellen, wie ein Lied von einem Livepublikum aufgenommen wird.

Wie entstehen Ihre Songs?
Normalerweise schreibe ich auf der Gitarre oder am Klavier. Ich versuche, die Hauptmelodie und den Text in ein, zwei Minuten zu skizzieren, und nehme sie dann zu meinem Produzenten Stereotype nach Zürich mit, wo wir gemeinsam schauen, in welche Stilrichtung wir gehen wollen. Die Texte handeln meistens von Gefühlen aus der Vergangenheit. Ich brauche immer eine gewisse Zeit, um diese zu verdauen und mir Gedanken zu machen. Sie zeigen entweder meine wütende, obsessive oder meine traurige, melancholische Seite.

Nun treten Sie beim Wettinger Open Air auf. Wissen Sie, wo Wettingen liegt?
Nicht wirklich. Ich gestehe, dass ich es googeln musste, aber nun habe ich ein paar schöne Fotos gesehen und freue mich auf das Konzert.

Freitag, 5. Juli, Wettinger Open Air wettinger-openair.ch