«Wir wollen Tanztalente unterstützen»

Filipe Portugal bietet in Baden talentierten Tänzerinnen und Tänzern aus aller Welt die Möglichkeit, ihr künftiges Berufsleben zu erkunden.
Mit dem Projekt «Mind The Gap» wird die erste Edition der Pre-Professionals Summer Academy realisiert. (rhö)

Seit einigen Monaten hat Filipe Portugal die künstlerische Leitung bei Tanz und Kunst Königsfelden inne. Mit der Summer Academy will er hochbegabten Tanztalenten aus aller Welt die Gelegenheit geben, alle Facetten ihres Berufs kennenzulernen und mit dem Programm «Mind The Gap» auf Tournee zu gehen. Die «Rundschau» hat sich mit dem Choreografen über das Projekt unterhalten.

Filipe Portugal, den Ausdruck «Mind The Gap» kennt man aus der Londoner U-Bahn. Weshalb dieser Titel für den Abend, den Sie in der Summer Academy erarbeiten?
Bei unserem ersten Projekt wollen meine stellvertretende Leiterin Salomé Martins und ich hochbegabte Talente unterstützen, die renommierte Tanzschulen abgeschlossen haben und nun ihre erste Anstellung suchen. Der Herausforderungen dieser Übergangszeit, die mehrere Jahre dauern kann, sollten – wie die Lücke zwischen Bahnsteig und Türschwelle – nicht unterschätzt werden. Man muss wissen, worauf es ankommt, wenn man sich bewirbt, aber ebenso, wie der Alltag in diesem Beruf aussieht.

Das alles können Sie vermitteln?
Im Gegensatz zu den allermeisten anderen Sommer-Workshops dauert unsere Pre-Professional Summer Academy nicht nur eine oder zwei, sondern fünf Wochen. So können wir den 17- bis 24-jährigen Teilnehmenden einen umfassenden Einblick verschaffen, was sie im Berufsalltag erwartet. Sie haben am Morgen Training, lernen drei verschiedene Choreografien und müssen sich auf der Tournee mit «Mind The Gap» auf ihnen unbekannten Bühnen zurechtfinden.

Wer kann an diesem Camp teilnehmen?
Zuerst haben wir das Projekt einigen Ballettschulen vorgestellt und sie gefragt, ob sie uns jemanden vorschlagen wollen. Aus ihnen und den Tanzenden, die sich bei einem öffentlichen Casting ebenfalls virtuell beworben haben, wählten wir fünf Tänzer und sechs Tänzerinnen aus. Zwei sind Schweizer, acht stammen aus dem europäischen Ausland, einer ist Kanadier. Aussergewöhnlich ist zudem, dass sie nichts für die Teilnahme und die Unterbringung bezahlen müssen. Alle wohnen im Gästehaus unserer Institution, wo sie nicht nur schlafen und essen, sondern auch neue Freundschaften knüpfen, die in unserer kleinen Welt des Tanzes lebenslang halten können.

Erforderte es viel Mut, in Ihrem ersten Jahr als künstlerischer Leiter gleich ein so ehrgeiziges und kostspieliges Projekt auf die Beine zu stellen?
Brigitta Luisa Merki, meine Vorgängerin und Gründerin von Tanz und Kunst Königsfelden, hat Salomé Martins und mich dazu animiert, nicht nur das Tanzfestival in der Klosterkirche weiterzuführen, sondern weitere Ideen zu entwickeln, um die Bekanntheit der Institution weiter zu mehren. Die Summer Academy lässt sich allerdings nur dank zusätzlicher öffentlicher und privater finanzieller Unterstützung durchführen.

Welche Kriterien mussten die drei Choreografien für «Mind The Gap» erfüllen?
Wir waren uns bewusst, dass wir uns die meisten Kreationen namhafter Choreografen nicht leisten können, und schon gar nicht, dass diese sie selbst inszenieren. Es ist uns jedoch gelungen, Marco Goecke für unser Projekt zu gewinnen. Seine Choreografie wird von einer seiner choreografischen Assistentinnen inszeniert, die anderen von Maša Kolar, die in Kroatien eine eigene Company hat, und die dritte wird von mir selbst inszeniert.

Eine grosse Schweizer Zeitung kritisierte, dass Marco Goecke, der im vergangenen Jahr in Hannover eine Kritikerin mit Hundekot beschmierte, kein gutes Vorbild für den Nachwuchs sei …
Wegen dieses Skandals haben auch wir uns überlegt, was wir machen sollen. Da er sich für seine Entgleisung entschuldigte, nicht persönlich bei «Mind The Gap» in Erscheinung tritt und seine Qualitäten als Choreograf ausser Frage stehen, haben wir uns dem Boykott in Deutschland nicht angeschlossen. Inzwischen hat Marco Goecke bereits wieder am Zürcher Opernhaus inszeniert und wird 2025 Ballettdirektor des Theaters Basel.

Hatten Sie einen schweren Start ins Berufsleben als Tänzer?
Ich hatte das Glück, dass ein Lehrer des Konservatoriums in Lissabon eingeladen wurde, Direktor des Nationalballetts von Portugal zu werden. Er nahm die Berufung nur unter der Bedingung an, dass er einige Tänzerinnen und Tänzer der jungen Generation mitbringen durfte, mich eingeschlossen.

Wie erlebten Sie Ihre 14 Jahre als Solotänzer am Ballett Zürich?
Als ich unter der Leitung von Heinz Spoerli begann, war ich mir bewusst, dass er sehr anspruchsvoll und fordernd ist. Wir hatten jedoch nie einen Konflikt, da ich davon überzeugt bin, dass es nicht wichtig ist, ob man eine grössere oder kleinere Rolle spielt, sondern was man aus ihr macht.

Filipe Portugal und Salomé Martins beobachten gebannt, wie Maša Kolar mit den jungen Tänzerinnen und Tänzern die Choreografie «Divine Creatures» inszeniert. (Bild: rhö)

Was hat Ihre Begeisterung fürs Tanzen geweckt?
Als ich sah, dass an der Primarschule, auf die ich ging, als Freifach Ballett unterrichtet wurde, machte mich das neugierig. Obwohl ich wusste, dass ich der einzige Junge sein würde, bat ich meine Mutter, daran teilnehmen zu dürfen. Ich erinnere mich, wie schwierig es damals war, mir alles zu merken, was ich in den Stunden lernte. Heute haben es die Schülerinnen und Schüler viel einfacher. Sie können alles auf Videoplattformen finden.

Mussten Sie für Ihre Karriere Schmerzen in Kauf nehmen?
Wer auf diesem Niveau tanzt, wacht immer mit irgendwelchen Schmerzen auf. Es ist deshalb wichtig, dass man ihrer Art und Stärke stets die nötige Beachtung schenkt, denn der Körper ist unser Instrument und grösstes Kapital. Wer sich nicht auch einmal schont, sondern einfach Pillen schluckt, wird irgendwann unter einer gravierenden Verletzung leiden.

Was war das Schlimmste, was Ihnen als Tänzer passiert ist?
Ich habe mir kurz vor Ende meiner Laufbahn den Fuss verdreht und dabei den fünften Mittelfussknochen gebrochen, was man den «Tänzerbruch» nennt. Vorher hat nur zwei, drei Mal der untere Rücken blockiert. Heute spüre ich zwar immer mindestens eines meiner Gelenke, aber ich kann ein normales Leben führen.

Beschreiben Sie Ihren heutigen Arbeitsalltag.
Als Direktor von Tanz und Kunst Königsfelden bin ich hauptsächlich als Initiant und Organisator verschiedener Projekte tätig. Ich mache das in einem 60-Prozent-Pensum, um Zeit und Freiheiten für meine Tätigkeit als Choreograf zu haben. Die Übergänge sind zum Teil fliessend. Als ich kürzlich am Salzburger Landestheater inszenierte, arbeitete ich gleichzeitig an der Produktion des Tanzfestivals Königsfelden 2025. Das funktioniert nur, weil ein starkes Team hinter mir steht.

Sie bringen nicht nur Inszenierungen auf die Bühne des Theaters Chur, sondern haben ausserdem die Tanzschule Balleo übernommen. An wen richtet sich ihr Angebot?
Nicht an professionelle Tänzerinnen, sondern vor allem an Passionierte, die vielleicht schon Jahrzehnte Unterricht nehmen, sich gern bewegen, dabei dem Alltag entfliehen und ein Teil unseres Publikums sind. Leider kann ich wegen meiner übrigen Verpflichtungen selbst nur noch eine Klasse pro Woche unterrichten.

Nach welchen Kriterien wird der Preis am Ende der Academy verliehen?
Die 15-köpfige Jury setzt sich überwiegend aus Fachleuten zusammen. Ihr gehört aber auch die frühere Bundesrätin Doris Leuthard an, die sich schon lang für Tanz und Kunst Königsfelden einsetzt. Alle Jurymitglieder besuchen die «Mind The Gap»-Premiere im Kurtheater Baden und geben danach nicht primär der Tänzerin oder dem Tänzer mit der besten Technik ihre Stimme, sondern der Person, die in ihnen etwas ausgelöst, sie berührt hat.