Um dieses Interview zu führen, musste die «Rundschau» ihre Fragen schriftlich stellen. Ein Gespräch mit Lia Schneider* zu führen, ist nur situationsbedingt möglich. Sie spricht nicht oder fast nicht. Die junge Frau ist zwar nicht gehörlos und könnte grundsätzlich eigentlich sprechen, doch Lia ist von selektivem Mutismus betroffen.
Lia Schneider, Sie sind Mutistin. Ein nicht ganz alltäglicher Begriff. Können Sie kurz erklären, worum es sich handelt?
Ich würde mich nicht unbedingt als Mutistin bezeichnen, da es eine psychische Krankheit ist, die ich habe, und nicht etwas, das ich bin. Mutismus ist psychogenes Schweigen, das nicht durch ein körperliches Problem verursacht wird. Der selektive Mutismus gehört zu den Angststörungen und ist eng mit der sozialen Phobie verbunden. Selektiv bedeutet, dass betroffene Personen in manchen Situationen fähig sind zu sprechen und in anderen nicht.
Sie sind also von selektivem Mutismus betroffen, nicht Mutistin?
Genau, meiner Erfahrung nach ist es den meisten lieber, wenn von einer Krankheit oder Störung gesprochen wird, von der die Person betroffen ist, anstatt die Person als die Krankheit zu bezeichnen. Ich selbst finde es auch wertschätzender, wenn man eine betroffene Person immer noch als Person mit einer Krankheit sieht, anstatt die Identität der Person in der Krankheit festzulegen.
Kann man dagegen etwas tun?
Ja, die Störung beginnt meist früh in der Kindheit und ist, wie alle Angststörungen, gut therapierbar. Je länger sie jedoch bestehen bleibt, desto schwieriger wird der Genesungsprozess. Deswegen ist eine frühe Erkennung und richtige Behandlung sehr wichtig. Am häufigsten sind Kinder davon betroffen, aber es kann auch später im Leben auftreten oder bis ins Jugend- oder Erwachsenenalter hinein bestehen. Man kann sich die Unfähigkeit zu sprechen etwa so vorstellen: Wenn eine betroffene Person in einer sozialen Situation sprechen muss, kommt es zu einer starken Angstreaktion, sodass sie «einfrieren». Die Angst, die oft auch körperliche Symptome verursacht, ist wie eine Blockade, welche die Betroffenen am Sprechen hindert.
Man kann also nicht sprechen, obwohl man es will?
Genau, es ist wichtig zu erwähnen, dass Betroffene gern sprechen wollen, aber es in bestimmten Situationen nicht können. Diese Angstreaktion läuft unterbewusst ab und ist auf keinen Fall wählbar oder eine bewusste Entscheidung. Viele Menschen kennen die Angst, wenn sie vor vielen Menschen sprechen müssen, und bei Personen mit selektivem Mutismus tritt sie auch auf, wenn wenige Personen anwesend sind, und zwar vor allem viel stärker.
Sie sind in einer Familie mit zwei Geschwistern aufgewachsen. Wann und wie zeichnete sich ab, dass bei Ihnen irgendetwas «anders» läuft?
In meiner Familie war es nicht untypisch, schüchtern oder zurückhaltend zu sein. Deswegen fiel es am Anfang nicht besonders auf, als ich nicht mit fremden Menschen sprach. Es wurde einfach gesagt, ich sei ein schüchternes Kind. Bevor ich in den Kindergarten kam, wurde mein Verhalten nicht als auffällig angesehen und unterschied sich auch nicht drastisch von dem meiner Geschwister. Für Kinder im Alter zwischen zwei und vier Jahren ist es auch normal, auf neue Situationen zuerst einmal mit Zurückhaltung zu reagieren. Das war bei mir auch so, als ich in den Kindergarten kam. Bei Kindern, die «nur» schüchtern sind, legt sich die anfängliche Zurückhaltung von selbst, sobald sie sich mit der neuen Umgebung vertraut gemacht haben. Bei mir war das jedoch nicht der Fall. Auch nach den ersten Wochen im Kindergarten schwieg ich weiterhin und zeigte keine Anzeichen, mich zu öffnen. Daraufhin schickten mich meine Kindergarten-Lehrpersonen zum Kinder- und Jugendpsychologen. Dort wurde mir dann die Diagnose selektiver Mutismus gestellt.
Wie hat Ihre Familie darauf reagiert?
Ich wurde mit fünf Jahren mit selektivem Mutismus diagnostiziert, und meine Geschwister waren zu diesem Zeitpunkt auch noch relativ jung und verstanden nicht wirklich, was los war. Meine Eltern haben mit gemischten Gefühlen darauf reagiert. Einerseits waren sie froh, dass nun klar war, was mein Problem war, und ich zu einer Therapeutin gehen konnte, die sich damit auskannte. Andererseits hat es sie auch bedrückt, dass ich so eine Diagnose erhielt.
Wie haben Sie Ihre Schulzeit erlebt?
Die Grundschulzeit war sehr herausfordernd für mich, weil ich fast überall, wo ich hinging, auf Unverständnis und Verurteilung stiess. Mir wurde unterstellt, dass ich extra nicht spreche, um andere zu ärgern oder weil ich eigensinnig sei. Solche Aussagen kamen meist von Erwachsenen. Es gab auch Situationen, in denen ich von anderen Kindern gemobbt wurde, weil ich nicht sprechen konnte. Wie man sich denken kann, sind das, gerade für ein Kind, sehr belastende Ereignisse. Vor allem deswegen, weil ich zu einem grossen Teil meine Erkrankung selbst nicht verstand. Im Schulalltag konnte ich mich nicht mündlich am Unterricht beteiligen, was vor allem dann zu Problemen führte, wenn ich eine Frage hatte und sie nicht stellen konnte. Wenn es darum ging, mündliche Benotungen zu machen, zum Beispiel eine Präsentation, musste ich diese vor einer kleineren Gruppe halten. Oder wenn wir zum Beispiel etwas auf Englisch aufsagen mussten, konnte ich das auf ein Tonband sprechen und die Lehrperson konnte es sich danach anhören.
Wurden Sie dabei in irgendeiner Form begleitet?
Ich musste jede Woche in die Therapie und ging nicht besonders gern. Ich musste über unangenehme Dinge sprechen und unangenehme Dinge tun, wie laut aus einem Buch vorlesen. Meine Therapeutin und Klassenlehrerin hatten ein kleines Heft, mit dem sie sich austauschen konnten. Dort schrieb meine Therapeutin jede Woche eine Aufgabe auf, die ich dann in der Schule, zusätzlich zum Wochenplan, den alle Kinder hatten, erledigen musste. Die Aufgabe war meistens, mit einer bestimmten Anzahl Kinder ein Spiel zu spielen, bei dem man sprechen musste. Wenn ich die Aufgabe nicht erledigt hatte, musste ich nachsitzen, was öfter mal vorkam. Meine Lehrpersonen waren sehr strikt und fordernd, und im Nachhinein hätte ich mir mehr Verständnis und Einfühlungsvermögen von ihnen gewünscht. Denn bei selektivem Mutismus ist Druck sehr kontraproduktiv. Die betroffene Person muss sich wohl und angenommen fühlen, damit sie ihre Angst überwinden kann.
Haben Sie sich auch einsam gefühlt?
Während der Grundschulzeit hatte ich einige sehr gute Freundinnen, von denen die meisten auch ein bisschen «anders» waren. Wir hatten uns gefunden und unternahmen alles zusammen. Gemeinsam waren wir stark. So erfanden wir zum Beispiel eine Zeichensprache, mit der ich mit meinen Freundinnen kommunizieren konnte. Manchmal sagte ich ihnen auch etwas ins Ohr, und sie sagten es laut für mich. Ich fühlte mich in dieser Zeit nicht einsam, aber trotzdem irgendwie anders oder fremd. Vor allem im Umgang mit anderen. Erst als ich in die Oberstufe kam und in die nächste grössere Stadt in die Schule musste, merkte ich, wie schwer es war, Freundschaften zu knüpfen, wenn man nicht verbal kommunizieren kann. Ich versuchte, mich anzupassen, damit ich irgendwie dazugehören würde. Mein grösster Wunsch war es, «normal» zu sein, wie alle anderen. In dieser Zeit ging es mir psychisch nicht gut. Ich fühlte mich einsam und ausgestossen und hatte ein sehr schlechtes Selbstvertrauen, zeitweise sogar Selbsthass. Ich hatte den innigen Wunsch, angenommen zu werden. Ich hatte die Überzeugung verinnerlicht, dass etwas nicht mit mir stimmt.
Sie haben Ihre Maturaarbeit diesem Thema gewidmet. Warum haben Sie sich dazu entschieden?
Ich wollte einerseits selbst mehr über diese Erkrankung lernen, und andererseits halte ich es für wichtig, dass mehr Menschen davon erfahren. In meiner Kindheit hat es zu vielen Problemen geführt, dass die meisten Menschen den selektiven Mutismus nicht kennen. Gerade für Menschen, die mit Kindern arbeiten, finde ich es entscheidend, dass sie darüber aufgeklärt sind. Denn so selten, wie man vielleicht denkt, ist der selektive Mutismus gar nicht. Bei Schulkindern ist durchschnittlich in jeder zweiten Klasse ein Kind von selektivem Mutismus betroffen. Es gibt viele seltene oder «unsichtbare» Erkrankungen oder Behinderungen, die von der Gesellschaft übersehen und ignoriert werden. Meiner Meinung nach ist gerade das Internet eine riesige Chance dafür, über Menschen mit besonderen Bedürfnissen aufzuklären. Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der jede Person gleichwertig ist und die gleichen Chancen und Möglichkeiten hat.
Welche Einstellung haben Sie ganz persönlich gegenüber dem selektiven Mutismus?
Meine Einstellung zum selektiven Mutismus war lange Zeit sehr negativ. Ich habe diesen Teil von mir gehasst und mich wie in einem Gefängnis gefühlt. Erst als ich vor einigen Jahren wieder in Therapie ging, lernte ich einen neuen Umgang damit. Es wurde akzeptiert, dass ich manchmal nicht sprechen kann, und andere Wege der Kommunikation wurden gesucht. Jetzt habe ich gelernt, Selbstvertrauen aufzubauen und mich selbst anzunehmen. Es ist wichtig, Grenzen zu setzen und sich mit Menschen zu umgeben, die einen akzeptieren und lieben, wie man ist. Trotz frustrierender Momente habe ich eine positivere Einstellung zum selektiven Mutismus entwickelt, seit ich angefangen habe, ihn zu akzeptieren.
Sie haben sich dazu entschieden, in einer betreuten Wohnung zu leben.
Ja, momentan ist es aufgrund meiner psychischen Gesundheit besser, in einem betreuten Wohnen zu leben. Seitdem ich hier eingezogen bin, konnte ich auch schon viele Fortschritte machen. In der Zukunft könnte ich mir aber gut vorstellen, allein zu leben.
Wo genau liegen die Stolpersteine bei der Alltagsbewältigung?
Etwas, das mir nach wie vor noch sehr schwerfällt, ist das Telefonieren mit fremden Menschen. Ich versuche, es zu vermeiden, und wenn es sich nicht vermeiden lässt, kostet es mich viel Überwindung und Schweiss. Wenn ich von fremden Menschen angesprochen werde, rede ich oft sehr leise, da es mich immer noch verunsichert. Wenn sie dann nochmals nachfragen oder sogar ungeduldig werden, macht es die Situation noch schwieriger für mich. Es gibt auch Situationen, in denen es mir schwerfällt, mit Menschen zu sprechen, die mir nahestehen. Das ist der Fall, wenn ich sehr gestresst bin oder es um ein schwieriges Thema geht. Glücklicherweise wissen diese Menschen aber, wie sie damit umgehen können.
Wie gehen Ihre Mitmenschen mit Ihrer Erkrankung um, und wie wünschen Sie sich generell, dass man Ihnen begegnet?
Am wichtigsten ist es, immer freundlich und verständnisvoll zu bleiben, auch wenn man nicht versteht, was in der anderen Person vorgeht. Man sollte auf keinen Fall Druck aufbauen, die Person auslachen oder beleidigen. Wenn ich nicht oder nur teilweise sprechen kann, denken andere oft, dass ich die Sprache nicht verstehe oder stumm bin. Das stört mich überhaupt nicht, und am besten versuchen sie dann, mit mir per Zeichensprache oder schriftlich zu kommunizieren. Falls das auch nicht funktionieren sollte, ist es auch voll okay, einfach wegzugehen und die Person in Ruhe zu lassen.
Hadern Sie manchmal mit Ihrem Schicksal?
Ja, definitiv. Ich frage mich oft, wie es wohl wäre oder vor allem gewesen wäre, wenn ich nicht von so jung an psychisch krank gewesen wäre. Wenn ich normale Erfahrungen als Kind hätte machen können und nicht schon in so jungen Jahren mit einer so hässlichen Seite der Menschheit, dem Unverständnis, dem Mobbing und der Verurteilung konfrontiert worden wäre.
Wie und wo sehen Sie sich in zehn Jahren, und wie wird Ihr Leben dann aussehen?
In den letzten Jahren gab es Zeiten, in denen es mir psychisch sehr schlecht ging. In dieser Zeit habe ich gelernt, dass nichts selbstverständlich ist und man nie weiss, was kommt. Das Leben ist ungewiss, morgen schon könnte alles komplett anders aussehen. Wie soll ich sagen, wie mein Leben in zehn Jahren aussehen wird, wenn ich noch nicht einmal weiss, wie es nächste Woche aussehen wird? Ich denke, es ist ein Teil des Lebens, nicht zu wissen, was kommen wird, und ich möchte mich darauf einlassen und es Tag für Tag nehmen.
* richtiger Name der Redaktion bekannt
mutismus-schweiz.ch