Vom Eisberg zur Zukunft

Care-Arbeit neu denken und bauen: Unter dem Leitsatz «Who cares? Uns kümmerts!» organisierte der Verein Femmes sapiens seine dritte Tagung im Zimmermannhaus Brugg.
Alexandra Dahinden, Vorstand Femmes sapiens, trägt die Impulse und Fragen ihres Panels an die Podiumsteilnehmerinnen Danielle Axelroud, Ruth Müri, Marianne Binder und Astrid Baldinger. (Bild: zVg | Susanne Seiler)

Die Tagung des Vereins Femmes sapiens widmete sich der Sichtbarmachung von Frauengeschichte(n) und Care-Arbeit. Federführend waren die Vorständinnen Manuela Morelli und Astrid Baldinger, unterstützt vom gesamten Team. Ihr gemeinsames Ziel: Die unsichtbare Arbeit von Frauen endlich sichtbar zu machen und den dringend notwendigen gesellschaftlichen Wandel anzustossen. Ihre Botschaft war unmissverständlich: Der «Eisberg» der unsichtbaren Care-Arbeit muss schmelzen – und zwar jetzt.

Das umfangreiche Programm bot tiefgehende Einblicke in die Bedeutung der Care-Arbeit, die viel zu lange als reine Privatsache behandelt wurde. In den morgendlichen Workshops wurde lebhaft darüber diskutiert, warum Care-Arbeit nicht als individuelles Problem angesehen werden darf, sondern als eine Herausforderung für die gesamte Gesellschaft. Ein zentrales Thema war die Frage: Warum muss unsere Wirtschaft neu gedacht werden? Im Mittelpunkt stand das vorgestellte Modell der vier Sektoren, das den bisherigen Ansatz mit drei Sektoren (Landwirtschaft, Industrie und Dienstleistungen) infrage stellte. Der vierte Sektor – die Sorge- und Versorgungswirtschaft – umfasst sowohl bezahlte als auch unbezahlte Care-Arbeit und stellt diese ins Zentrum eines neuen wirtschaftlichen Verständnisses. Care-Arbeit, die oft als «ein bisschen Haushalt» abgetan wird, ist jedoch Milliarden wert. Die Konferenz verdeutlichte, dass das Wachstum im Gesundheitssektor häufig als Verlagerung von früher unbezahlt geleisteter Arbeit in den bezahlten Bereich interpretiert werden kann. Diese Veränderungen erfordern eine neue Erzählung der Wirtschaftsgeschichte, eine, die die tragende Rolle der Care-Arbeit endlich anerkennt.

Hochkarätiges Podium
Im Rahmen einer Podiumsdiskussion mit Rednerinnen wie Marianne Binder, Ruth Müri und Danielle Axelroud wurde der Wert der Care-Arbeit beleuchtet. Die sogenannte «Care-Krise» und der daraus resultierende «Care-Gap» – eine Lücke von 100 Milliarden – wurden eindrucksvoll verdeutlicht. Marianne Binder fasste es zusammen: «Es war ein inspirierender Tag voller wertvoller Impulse. Für mich ist die Aufwertung der Familienarbeit zentral. Familienarbeit bietet grosse Chancen und keineswegs nur Defizite. Sie sollte Teil der Arbeitsbiografie sein, und beispielsweise gerade beim Wiedereinstieg eine Bewertung erfahren, was sich unter anderen auf den Lohn auswirken könnte. Familienarbeit bildet das Fundament unserer Gesellschaft, unabhängig von den jeweiligen Familienformen.»

Kreativ-Workshop mit Lego
Care-Arbeit – verstanden als Sorge- und Versorgungsarbeit – ist eine Grundvoraussetzung für das Funktionieren der Wirtschaft, wird aber in den aktuellen Darstellungen und Berechnungen nicht dargestellt. «Unser Gesellschaftsvertrag macht die Arbeit der Frauen unsichtbar», betonte Andrea Voellmin, ehemalige Staatsarchivarin, und fügte hinzu: «Das führt dazu, dass diese Arbeit nicht wertgeschätzt wird, obwohl unsere gesamte Gesellschaft darauf aufbaut.» Ein weiterer Höhepunkt der Tagung war der kreative Workshop, in dem Zukunftsmodelle mithilfe der Methode «Lego Serious Play» entwickelt wurden. Das Team des Zukunftslabors leitete die Teilnehmenden an, mit Bausteinen spielerisch neue Wege für eine gerechtere Verteilung von Care-Arbeit zu entwerfen. Die Visionen, die dabei entstanden, stellten die Gemeinschaft ins Zentrum – mit Ideen, wie generationenübergreifendes Leben und gegenseitige Unterstützung in Communities gestärkt werden können. Friederike Vinzenz betonte: «Es ist von grösster Bedeutung, Gedanken und Worte sichtbar zu machen, um Wandel zu ermöglichen.» Die spielerische Methode ermöglichte es, neue kreative Ansätze zu entwickeln, die Raum für Gemeinschaftsbildung und generationenübergreifendes Zusammenleben schufen. Am Ende des Tages stand fest: Der Eisberg muss schmelzen – Care-Arbeit steht im Zentrum unserer Zukunft.

Emotionaler Höhepunkt mit Slam Poetry
Neben den spannenden Vorträgen und Diskussionen bot die Veranstaltung auch Raum für den informellen Austausch. Am Büchertisch konnten die Teilnehmerinnen stöbern, während das gemeinsame Essen die Gelegenheit für weitere Vernetzung bot.

Den emotionalen Höhepunkt des Tages bildete der Auftritt der U20-Schweizer-Meisterin im Poetry Slam, Johanna Ruoff, die zwei ihrer Texte performte. Mit ihrer Wortgewandtheit fesselte sie die rund 60 Teilnehmerinnen und brachte die zentrale Botschaft auf den Punkt: «Es war ermutigend zu sehen, wie viele Frauen aus der Region Brugg sich für das Thema Care-Arbeit interessieren. Das gibt mir Hoffnung, dass echte Veränderungen möglich sind.» Die Veranstaltung zeigte einmal mehr: Care-Arbeit ist nicht nur ein privates Anliegen, sondern betrifft uns alle.