Wasserschloss-Freiamt statt Rütli

Der frühere Riniker Dorfarzt Paul Lüthy hat eine lesenswerte Schweizer Geschichte aus der regionalen Perspektive geschrieben.
Paul Lüthy wies nach der Übergabe seiner Arztpraxis in einem Geschichtsbuch nach, dass sich die Schweizer Geschichte nicht im Rütli- und Morgartenmythos erschöpft. (Bild: hpw)

Der Rütlischwur und die Schlacht bei Morgarten – so lernten wir es noch in der Schule – waren die eidgenössischen Urereignisse schlechthin. Sie behielten als identitätsstiftende Mythen ihren Platz im historischen Gedächtnis. Aber die Schweizer Geschichte erschöpfte sich nicht an diesen magischen Orten. Andere wichtige Ereignisse prägten unser Land ebenso. Man ist sich jedoch wenig bewusst, dass sich vieles im Aargau – konkret: in unserer Gegend – abspielte. Diese Lücke schliesst der pensionierte frühere Riniker Dorfarzt Paul Lüthy mit dem 139-seitigen Buch: «Wasserschloss & Freiamt statt Rütli und Morgarten».

Reich an Geschichte
Der Autor weist nach, dass der Aargau und namentlich das Wasserschlossgebiet sowie das Freiamt in wichtigen Zeitabschnitten auf dem Weg zur Schweiz eine wesentliche Rolle spielten. So bauten die Römer in Vindonissa 15 n. Chr. das einzige Legionslager auf Schweizer Boden. Die Habsburger, spätere Weltmacht und stärkste europäische Dynastie, hinterliessen ab dem 10. Jahrhundert im Kastell Altenburg und ab dem 11. Jahrhundert im Kloster Muri sowie auf der Habsburg ihre frühesten Fussabdrücke. 1308 errichteten sie in Königsfelden den ersten Memorialort zum Gedenken an die Ermordung König Albrechts I.

Als lachende Dritte im Streit zwischen uneinigen Päpsten und Regenten besetzten 1415 die Berner den westlichen, die Zürcher und die Innerschweizer den östlichen und südlichen Aargau. Das Freiamt und die Grafschaft Baden bildeten als gemeine Herrschaften ein Labor für die erste gemeinsame eidgenössische Herrschaft. Aber die Eintracht in der Alten Eidgenossenschaft war brüchig. Nicht zufällig spielten sich der Bauernkrieg und die beiden Villmergerkriege im Freiamt ab.

Die 1761 im Bad Schinznach gegründete Helvetische Gesellschaft versuchte, der Eidgenossenschaft neue Impulse zu geben. Doch Napoleon zwang die zerstrittenen Stände zu einem Einheitsstaat. Aarau wurde erste Hauptstadt der Helvetischen Republik. Als kluge Staatsmänner standen die Brugger Philipp Albert Stapfer und Albrecht Rengger dem 1803 gegründeten Kanton Aargau zur Seite. Der junge Staat war Musterknabe und Heisssporn zugleich. Er schuf mit Brugger Lehrern die erste Kantonsschule, war die Wiege für eidgenössische Vereinsgründungen, schöpfte aus dem «Freiämtersturm» neue Kraft und leitete mit der Klösteraufhebung die Freischarenzüge, den Sonderbundskrieg und 1848 die Schaffung des schweizerischen Bundesstaats ein.

Bemerkenswertes Werk
Paul Lüthy, frisch pensioniert, befand, dass der Aargau in Anbetracht der Faktendichte einen eher bescheidenen Platz in der Schweizer Geschichte einnehme. Das Jubiläumsjahr 2015 – mit Feiern zu den Gedenkdaten Morgarten 1315, Einmarsch der Berner im Aargau 1415, Marignano 1515 und Wiener Kongress 1815 – motivierte ihn, seine sukzessiv gesammelten Zeitungsbeiträge mit historischem Stoff durch eigene Recherchen zu erweitern. Dafür brauchte er kein weites Feld abzustecken: Die nächste Umgebung, das Wasserschloss an der Schnittstelle des einstigen Berner Aargaus und der Grafschaft Baden, bot ihm mit exzellenten historischen Zeugnissen genug Anschauungsmaterial. Wegen geschichtlicher Gemeinsamkeiten und familiärer Beziehungen bezog er auch das Freiamt in seine Nachforschungen ein.

Entstanden ist ein Werk von bemerkenswerter Kompaktheit. Es gibt durch die chronologische Darstellung von Ereignissen in den einzelnen Zeitabschnitten einen straffen Gesamtüberblick. Trotzdem kommen Details in Anmerkungen und Anekdoten nicht zu kurz. Die Lesbarkeit ist gut, der Stoff ist übersichtlich aufbereitet, sodass er sogar als Begleitlektüre für den Geschichtsunterricht denkbar wäre. Obwohl er keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, gelang es dem Nichthistoriker, historische Begebenheiten von nationaler Bedeutung aus lokaler Sicht zu gewichten.

Dafür hat Paul Lüthy viel Arbeit in Kauf genommen. Er las sich durch ganze Bibliotheken. Das umfangreiche Literaturverzeichnis enthält über 50 Quellen. Zudem holte er sich für seine Aufzeichnungen die fachlichen Ratschläge des Historikers Max Baumann, der ehemaligen Kantonsarchäologin Elisabeth Bleuer und des Geologen und Klimatologen Stefan Bader. Von den 120 Bildern, die den Text illustrieren, fotografierte er den Grossteil selbst. Dafür waren ihm Fahrten über den Aargau hinaus nicht zu viel. Als Dorfarzt mit vielen Hausbesuchen war er gewohnt, entlegene Ziele anzusteuern.

Arzt mit «Lehrer-Gen»
30 Jahre lang, seit 1984, war Paul Lüthy als Hausarzt tätig – er war der erste Dorfdoktor in Riniken. Für ihn war das die ideale Tätigkeit, weil er sich seit dem Studium auf die Allgemeinmedizin mit ihrem breitesten Spektrum konzentrierte. Er stammt aus einer Lehrerfamilie im Wynental: Vater und Mutter, ein Bruder, eine Schwester sowie zwei der drei Töchter wählten diesen Beruf. Auch seine Gattin war Kindergartenlehrerin auf dem Bözberg. Dort fand die Arztfamilie einen Bauplatz für ihr schönes Eigenheim.

Vielleicht habe ihm sein «Lehrer-Gen» die Aufgabe als Geschichtsbuchautor etwas erleichtert, räumt Paul Lüthy ein. Geschichtlich sei er weniger vorbelastet gewesen – und wenn, dann eher negativ. Denn ein schlechter Geschichtsunterricht in der Schule habe sein historisches Interesse nicht gestillt. Aus der Neigung wurde inzwischen Leidenschaft. Die erste Auflage im Eigenverlag geht jetzt zur Neige, eine zweite ist im Druck. Der Verfasser hält nach einem professionellen Verlag Ausschau, der den Buchvertrieb übernehmen und ihn entlasten könnte. Denn sieben Grosskinder möchten ihren Grossvater auch geniessen.

Paul Lüthy: Wasserschloss & Freiamt statt Rütli und Morgarten. 139 Seiten. paul-luethy@bluewin.ch. 33 Franken plus Porto