Nussbaumen – Gegen Abend macht sich unter den Bewohnerinnen und Bewohnern im Demenzhaus Unruhe breit. Der kleine Hans spürt, dass er jetzt nach Hause sollte, damit sich die Mutter keine Sorgen macht. Und die junge Mutter Elisabeth weiss, dass bald die Kinder von der Schule kommen und sie nach ihnen schauen muss. Für die beiden ist klar, was zu tun ist, doch es will einfach nicht klappen: Warum geht diese Tür nicht auf? Wie komme ich jetzt nach Hause? Und wann kommen Hanneli und Max endlich von der Schule zurück?
In solchen Momenten muss das Personal viel auffangen und die Menschen beruhigen, die in Wahrheit schon alt, aber in ihrem Erleben noch jung oder gar ein Kind sind. «An ihren Aussagen erkennt man, wo sie in ihrer Erinnerung stehen», sagt Angelika Flum, Leiterin Pflege und Betreuung in der Stiftung Gässliacker in Nussbaumen. Die 59-jährige Pflegefachfrau bringt langjährige Erfahrung im Umgang mit Demenzbetroffenen mit: «Das Kurzzeitgedächtnis ist stets am schnellsten betroffen. Im Verlauf der Krankheit geht dann auch das frühere Gedächtnis verloren, es ist ein Rückwärtsverlauf.» Am Schluss lande man in der Kindheit und suche seine Mutter. Hans und Elisabeth heissen eigentlich anders, und ihre Geschichte wird exemplarisch erzählt.
Bei Menschen mit Demenz ist das Gehirn beeinträchtigt, körperlich sind sie hingegen meist recht fit. Die Diskrepanz zwischen Gedächtnisstand und äusserer Wirklichkeit führt zudem zu innerer Unruhe, die oft körperlich ausgelebt wird. Im «Gässliacker» geben lange Gänge und ein Garten mit Endloswegen dem Bewegungsbedürfnis Raum. «Wichtig ist ausserdem, dass die Leute ihre Hände beschäftigen können», weiss Angelika Flum, «und sie tragen gern etwas mit sich herum.» Auf der Abteilung gibt es Ecken mit vielen Kissen, in denen man «nuschen» kann, und Stofftiere zum Herumtragen. Auf dem Sofa im Gang darf Elisabeth ein Mittagsschläfchen halten, wenn ihr danach ist. «Die Bewohnerinnen und Bewohner sollen sich hier möglichst wie daheim fühlen.»
Ebenso wichtig ist die Sicherheit: Weil Erkrankte Gefahren nicht mehr einschätzen können, werden spitze Gegenstände vermieden und die Brot- und Rüstmesser eingeschlossen. Giftige Zimmerpflanzen oder kleinteilige Dekorationen sind tabu, weil sie für Nahrung gehalten werden könnten. Beim Gespräch in der Cafeteria deutet Angelika Flum auf den Tisch: «Diese Dekoration hier würde wohl nicht lang überleben.» In einer anderen Institution habe eine Bewohnerin einmal fast die kleinen Weihnachtskugeln auf dem Gedeck verspeist.
Herausfordernde Arbeit
Die Betreuung von Menschen mit Demenz ist sehr anspruchsvoll. Betroffene haben häufig Depressionen, weil sie ihre Defizite wahrnehmen und unter dem extremen Kontrollverlust leiden. Dann steht Hans im Bad und weiss nicht mehr, wozu eine Zahnbürste gut ist. Je nach Art der Krankheit kommen Aggressionen oder Enthemmtheit dazu. Da die Körperwahrnehmung eingeschränkt ist, können Betroffene Schmerzen nicht mehr lokalisieren oder zuordnen. Elisabeth ist dann tagelang gereizt, weil etwas nicht stimmt, kann sich aber nicht mitteilen. So muss das Personal durch genaues Beobachten selbst herausfinden, dass sie eine Blasenentzündung entwickelt hat.
«Damit die Betreuenden all das tragen können, braucht es einen guten Kontakt im Team und eingehende Fallbesprechungen», sagt Fachfrau Flum, «es muss Gefässe für Gefühle geben.» Man solle seine eigenen Grenzen erkennen dürfen und sich auch einmal etwas abnehmen lassen. Im «Gässliacker» werden bezahlte interne Weiterbildungen angeboten, um für die Mitarbeiterinnen einen Mehrwert zu schaffen. «Es ist nicht einfach, qualifiziertes Personal zu finden. Wir tun deshalb viel dafür, dieses zu halten.» Flexible Arbeitszeitmodelle gehören ebenso zum Konzept.
Und man legt Wert auf die guten Momente: «Es sind die kleinen Erfolge, die wir im Alltag feiern», sagt Angelika Flum. Mit Biografiearbeit können die Pflegenden zuweilen hartnäckige Probleme lösen. Sie erzählt ein Beispiel: «Während der Rapportsitzung, die hinter Glastüren stattfand, kam jedes Mal derselbe Bewohner und klopfte.» Immer habe er dringend etwas gebraucht. «Wenn wir ihm sagten, wir hätten gerade Rapport, sagte er: ‹Das interessiert mich nicht, ich brauche es jetzt.›» So ging das eine Weile, bis sie herausfanden, dass er früher Geschäftsmann gewesen war. «Also sagte ich das nächste Mal zu ihm: ‹Wir haben gerade ein Meeting, ich komme danach.›» Da habe er geantwortet: «Ach so! In Ordnung, ich warte hier.» Das habe dann zuverlässig funktioniert.