Was hält unsere Gesellschaft zusammen?

Beim Podium Wasserschloss referieren bekannte Persönlichkeiten zu gesellschaftlichen Themen. Martin Zingg zum Hintergrund der Reihe.
Martin Zingg ist seit 2021 Pfarrer der Reformierten Kirchgemeinde Birmenstorf-Gebenstorf-Turgi. (Bild: zVg)

Martin Zingg, der Titel der Veranstaltungsreihe «Was hält unsere Gesellschaft zusammen?» ist als Frage formuliert. Ist das bewusst so?
Ja, das Fragezeichen ist ganz bewusst gewählt. Denn wir wollen nicht werten und behaupten, dass die Gesellschaft am Abgrund steht. Aus demselben Grund haben wir auch nicht «Was hält uns ‹noch› zusammen?» geschrieben. Denn man kann diese Thematik unterschiedlich einschätzen.

Wie kamen Sie auf dieses Thema?
Den Hintergrund bildet die enorme Veränderung der Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten. Die wohl grösste Zäsur wurde durch den Mauerfall im Jahr 1989 ausgelöst. Innert dreissig Jahren entstanden daraus eine politische Neuordnung in Osteuropa, der Neoliberalismus, die digitale Revolution und die Globalisierung. Dazu kommt die demografische Entwicklung: Durch die hohe Lebenserwartung der Menschen sind wir keine Pyramide mehr. Wie bewältigen wir diese Veränderung, und wie schaffen wir Solidarität zwischen Jung und Alt, um gemeinsam weiterzugehen?

Inwiefern hat Corona die Gesellschaft verändert?
Plötzlich wurde neu und teilweise extrem polarisiert. Impfgegner und -befürworter konnten nicht einmal mehr miteinander reden. Es entstanden neue Kräfte, welche die Gesellschaft zunehmend auseinandertreiben, anstatt sie zusammenzuführen. Die in der Schweiz bewährte Konsenskultur verändert sich, politisch wird ein anderer Ton angeschlagen. Doch nicht allein die Pandemie, sondern auch komplexe und umstrittene Themen wie Europa, Migration, Asyl­wesen und Klimakrise haben die Gräben tiefer gemacht.

Den Auftakt macht der Historiker und ehemalige Grünen-Nationalrat Josef Lang zum Thema «Die Schweiz heute».
Zum Auftakt wollen wir den Ist-Zustand der Gesellschaft beleuchten. Diese ist ja kein Zufallsprodukt, sondern entwickelt sich durch vorangehende Umstände. Darum macht dieses Auftaktthema Sinn. Lang ist eine sehr profilierte Persönlichkeit. Als Politiker ist er in der Aktualität, aber kennt auch die Geschichte des Landes als Historiker sehr gut.

Am zweiten Abend wird Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm zum Bildungswesen sprechen. Welche Überlegungen stehen hinter dieser Wahl?
Alle Kinder in der Schweiz haben das Glück, zur Schule gehen zu dürfen – egal welchen Hintergrunds, welcher Nationalität oder welchen Status. Deshalb ist das Bildungswesen enorm wichtig. Es trägt im Idealfall dazu bei, dass dort den Kindern auch das Verbindende mitgegeben wird. Dieses soll später im Erwachsenenleben ein tragendes Element für den Zusammenhalt der Gesellschaft sein. Hinter dem Titel «Bildung für mehr Chancengerechtigkeit» steht aber auch die Frage: Erfüllt das heutige Bildungswesen die hohen Erwartungen? Oder ist es doch eher ein Trampolin für die spätere Elite, die sich vielleicht gar aus der gesellschaft­lichen Solidarität loslöst?

Das Thema Religionen wird am vierten Abend von Islamwissenschaftlerin Amira Hafner-Al Jabaji angesprochen. Welche Rolle spielen sie noch in der Gesellschaft?
Institutionen wie Religionen und Kirchen waren früher massgeblich am gesellschaftlichen Zusammenhalt beteiligt. Das waren Orte, wo Identitäten gestärkt wurden. Sie haben jedoch an Bedeutung und durch etliche Krisen an Glaubwürdigkeit verloren. Hinter dem Titel «Brücken bauen» steht an jenem Abend die Frage: Was ist heute die Rolle der Religionen, Kirchen und Konfessionen? Auf diese Institutionen muss ein kritischer Blick geworfen werden, man muss sich damit auseinandersetzen. Aber man kann den Kreis durchaus erweitern – auf die Vereine und die Kultur. Was können sie einbringen, um die Gräben in der Gesellschaft zu schliessen?

Klar ist also: Es braucht alle Teile der Gesellschaft, um eine Veränderung zu bewirken.
Das thematisieren wir am dritten Abend mit dem Thema «Dazugehören». Wie entsteht Zugehörigkeit? Wie können die Menschen in der heutigen Gesellschaft diese erfahren, aber auch ermöglichen? Unsere heutige Gesellschaft ist farbig und vielfältig. Das ist eine grosse Chance, aber auch eine Herausforderung. Wie gelingt es, dass sich das Individuum zum Ganzen zugehörig fühlt? Darüber spricht der Soziologe Ueli Mäder von der Uni Basel.

Zum Abschluss der Reihe werden am 23. November konkrete Lösungsansätze zur Diskussion gestellt. Wieso gerade mit der Inititative «Service Citoyen», welche fordert, dass jede und jeder einmal im Leben einen Einsatz zugunsten von Gesellschaft und Umwelt leistet , sowie der «Dienstpflicht auch für Frauen»?
Unsere veränderte Gesellschaft braucht neue Formen der Solidarität, um den Zusammenhalt zu stärken. Deshalb suchten wir nach konkreten Vorstössen oder Projekten, die in diese Richtung gehen. Das soll einen würdigen Abschluss zum Thema bilden.

Die Referentinnen und Referenten sind hochkarätig. Wie haben Sie sie überzeugt, ausgerechnet nach Gebenstorf zu kommen?
Uns ist bewusst, dass die Veranstaltungen nicht in den grossen Zentren Baden oder Brugg, sondern im eher ländlichen Gebenstorf stattfinden. Bisher hatten wir ein regionales Einzugsgebiet. Wir könnten uns dieses Thema aber auch in urbaneren Zentren vorstellen. Die Referierenden suchen wir, nachdem die fünf Unterthemen formuliert sind. Alle haben sehr spontan zugesagt. Das hat uns natürlich sehr gefreut.

Machen Sie den Referierenden ­Vorgaben?
Nein, keinerlei. Wir sind selber gespannt auf die Vorträge. Auch das Publikum soll anschliessend mitreden. Das Konzept sieht ja vor, dass nach den Referaten auch Raum für Diskussionen mit den Referenten ist.

Welche Haltung vertritt die sieben­köpfige Arbeitsgruppe, die ja aus dem kirchlichen Umfeld kommt?
Die Reihe wird von der reformierten und der katholischen Kirchgemeinde getragen. Unsere Philosophie ist, dass wir eine gesellschaftliche Mitverantwortung tragen. Die Kirche soll ein Raum sein, in dem aktuelle Fragen konträr diskutiert werden können.

Wollen Sie ein kirchliches Publikum ansprechen?
Bei der Planung haben wir stets im Hinterkopf, dass ein Thema ganz unterschiedliche Leute ansprechen soll. Wir hoffen deshalb auf ein breites Publikum mit ganz unterschiedlichen Menschen.