«Wir sind nicht zum Abnicken da»

Nach fast sechs Stunden Debatte konnten im Budget 315 000 Franken eingespart werden – der Steuerfuss steigt trotzdem auf 98 Prozent.
Der Einwohnerrat hat seine Entschädigungen für die Jahre 2023 bis 2025 festgesetzt. Die Beträge für die Mitglieder bleiben bei 100 Franken pro Sitzung – das Präsidium bekommt neu 2000 Franken und somit 250 Franken mehr pro Jahr. (Bild: bkr)

In den letzten zwei Jahren legte der Wettinger Gemeinderat Budgets vor, in welchen ein Defizit eingeplant war. 2023 will er den Turnaround schaffen – die laufende Rechnung mit einer schwarzen Null abschliessen. Dies erreicht er aus seiner Sicht aber nur, wenn mit dem Budget eine Steuerfusserhöhung von 95 auf 98 Prozent beschlossen wird. Oder es dem Einwohnerrat gelingen würde, 3 Steuerprozente ausgabenseitig einzusparen – ein schwieriges Unterfangen, weil das Gros der Ausgaben gebunden ist und somit nicht beeinflusst werden kann. Hinzu kommt, dass sich die Gemeinde mit den für 2023 geplanten Investitionen zusätzlich um 4,5 Millionen Franken verschuldet. «Diese Summe entspricht 9 Steuerprozenten», stellte Thomas Benz (Die Mitte) als Präsident der Finanzkommission in der Eintretensdebatte fest. Für ein finanziell wirklich ausgeglichenes Jahr wäre eine Steuerfusserhöhung um 12 Prozentpunkte nötig.

Höhere Steuern unumgänglich
Mia Gujer und die Fraktion von SP und WettiGrüen wollten diesen Weg beschreiten. Angesichts des ab 2027 anstehenden Investitionspakets (die Umsetzung des Masterplans Schule mit einem Kostenvolumen von 200 Millionen Franken) seien 12 Prozentpunkte nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Der Masterplan Schule war auch für Christian Wassmer, Sprecher Die Mitte/EVP, ein Knackpunkt. «200 Millionen Franken können wir uns eigentlich gar nicht leisten.» Für ein attraktives Wettingen müsse man aber in die Bildung investieren und im nächsten Jahr mit der Vorfinanzierung beginnen, wozu eine Steuererhöhung unumgänglich sei.

Die Finanzkommission sah das ähnlich und stellte sich hinter den Steuerfuss-Antrag – legte aber zusätzlich 35 Anträge mit dem Ziel vor, Einsparungen zu machen. Das war ganz nach dem Gusto der FDP. «Das Problem ist nicht nur mit höheren Steuern anzugehen», sagte Judith Gähler. «Noch immer wird vieles mit zu grosser Kelle angerichtet». Die GLP fand bei der Durchleuchtung des Budgets nicht die grossen Brocken – «aber Kleinvieh macht auch Mist», sagte Manuela Ernst. «Wir sind nicht zum Abnicken gewählt.» Dementsprechend präsentierte sie zusätzliche Sparanträge – Ziel: Die Ausgaben um 2 Steuerprozente zu reduzieren.

Sich offensichtlich nicht mit kleinen und kleinsten Posten befassen wollte die SVP. Martin Fricker stellte einen Rückweisungsantrag mit dem Auftrag an den Gemeinderat, «ein ausgeglichenes Budget mit einem unveränderten Steuerfuss von 95 Prozent vorzulegen». Unterstützung fand er in den Reihen der GLP. Mit grosser Mehrheit beschloss der Rat aber, sich selbst in die Arbeit zu knien.

Damit begab sich das Parlament in eine Debatte, die über Mitternacht hin­aus ging und teilweise sehr emotional geführt wurde. Auslöser für Emotionalität bildete das rationale und an sich sinnvolle Vorgehen der ­Finanzkommission bei der Ausarbeitung ihrer Sparvorschläge. Ein Beispiel sind Mobiliarbeschaffungen für die Schule. Mit welchen Positionen eine bestimmte Totalsumme gespart werden könnte, wurde in Zusammenarbeit mit dem Gemeinderat ermittelt. Über diese Positionen global zu entscheiden, war für Leo Scherer (WettiGrüen) inakzeptabel – und so kam es zum grossen Bazar.

Ein Prozent mehr Lohn
Die grösste beschlossene Kürzung betrifft die Besoldungsanpassungen für das Gemeindepersonal. Der Gemeinderat beantragte nach zwei Nullrunden eine Erhöhung um 2 Prozent – die Finanzkommission wollte jedoch lediglich 1 Prozent, was der Rat mit 27 zu 17 Stimmen so beschloss. Anträge der SVP für einen völligen Verzicht oder der SP/WettiGrüen für 1,5 Prozent blieben chancenlos.

In der Debatte warnte Gemeinde­ammann Roland Kuster die Einwohnerrätinnen und -räte vor diesem Schritt. «Wettingen steht in einem Kampf um Talente», womit er den Fachkräftemangel ansprach, der auch die öffentliche Hand erreicht hat. Als Beispiel nannte er die Regionalpolizei. Diese machte im Juli Schlagzeilen, weil 6 der 37 Stellen nicht besetzt waren. «Wir finden die nötigen Leute schlicht nicht», sagt Kuster.

Am Schluss der Sitzung hatte der Einwohnerrat 315 000 Franken ein­gespart und genehmigte den Vor­anschlag mit einem Steuerfuss von 98 Prozent mit 18 Ja- zu 15 Nein-Stimmen bei 2 Enthaltungen. Das Budget untersteht dem obligatorischen Referendum, womit es am 27. November zu einer Volksabstimmung kommt.

Volksinitiative
Am ersten Abend der Doppelsitzung des Einwohnerrats ging es unter anderem um die Volksinitiative «Für ein Lebendiges Wettingen», im Rat durch Leo Scherer (WettiGrüen) vertreten. Das Begehren will, dass bisher freiwillige Beträge an Musikschule, kulturelle und sportliche Aktivitäten, aber auch Leistungen an Seniorinnen und Senioren zwingend ins Budget aufgenommen werden müssen – mit ­fixen Prozentsätzen der Budgetsumme. Abklärungen des Gemeinderats haben ergeben, dass dies so nicht geht – da es dem Zweckbindungsverbot widerspricht. Pragmatisch hat sich der Gemeinderat mit den Initianten insofern geeinigt, indem die Zahlen in Richtwerte umgewandelt wurden. Dennoch: Auch so würden neue, zusätzliche Ausgaben auf die Gemeinde zukommen. Ursula Depentor (Die Mitte) sprach von 1,5 Steuerprozent.

Dass eine gültige Volksinitiative den Bürgerinnen und Bürgern zur Abstimmung vorgelegt werden muss, war klar. Die SVP machte jedoch beliebt, dies mit der Empfehlung der ­Ablehnung zu tun. Für die entsprechende Ausmarchung verlangte Leo Scherer eine Abstimmung unter Namensaufruf. Was der Rat so beschloss. Mit 30 Ja- zu 16 Nein-Stimmen folgte das Parlament schliesslich dem SVP-Antrag. Wie die einzelnen Ratsmitglieder abgestimmt haben? Das Protokoll der Sitzung ist öffentlich und wird im Internet aufgeschaltet. Die Volksabstimmung ist am 27. November.