Am Eidgenössischen Ehr- und Freischiessen 1824 in Aarau wurde auf Anregung des Aargauers Carl Ludwig Schmid-Guiot der Schweizerische Schützenverein gegründet. 200 Jahre später werden, wieder unter massgebender aargauischer Mitwirkung, in einem 860-seitigen Jubiläumsband die Geschichte des Schweizer Schiesssportverbands (SSV), wie er seit 2002 heisst, und die staatspolitische Bedeutung des Schützenwesens in der Schweiz dargestellt.
Projektleiter und Hauptautor war der Windischer Historiker Jürg Stüssi-Lauterburg (68). Die Herausgabe besorgte der Militärexperte und Publizist Hans Luginbühl. Der Lenzburger Verlag Merker im Effingerhof veröffentlichte das Werk. Dessen Titel: «Einer für alle, alle für einen» widerspiegelt den Patriotismus der Schützen-Gründergeneration. Er nimmt auch den später unter der Bundeshauskuppel angebrachten Wahlspruch «Unus pro omnibus, omnes pro uno» vorweg – es ist ein Appell zur eidgenössischen Solidarität.
Eintracht macht stark
Aus gutem Grund beflügelte in den 1820er-Jahren das Bekenntnis zur Eintracht die Pioniere des SSV. Denn zwischen dem Untergang der Alten Eidgenossenschaft, 1798, und der Gründung des schweizerischen Bundesstaates, 1848, veränderte sich das soziale System grundlegend. Konservative und Liberale kämpften um die Vorrangstellung. Der inzwischen aus 22 Kantonen bestehende Staatenbund war ein Unruheherd – ein Putsch folgte dem andern. Zusammenhalt war nötig. Aber er konnte nicht von «oben» verordnet werden, sondern musste von unten, aus der Zivilgesellschaft, gedeihen.
Dieses Gebot erfüllte der Schweizerische Schützenverein. Er wurde zu einem Geburtshelfer der neuen Schweiz – und mit ihm der Eidgenössische Turnverein und der Eidgenössische Sängerverein, die 1832 beziehungsweise 1842 ebenfalls in Aarau gegründet wurden. Die Schützen waren für die Stärkung des vaterländischen Bewusstseins besonders prädestiniert. Ihr «Erbgut» deckte sich mit den Wesensmerkmalen der Eidgenossenschaft: Wehrhaftigkeit und Freiheit, Widerstandsrecht gegen Tyrannei – wie sie der Schütze und Nationalheld Tell verkörperte.
SSV-Gründer Carl Ludwig Schmid-Goiot und die siebzehn ersten Präsidenten von 1824 bis 1849 – mit den Aargauern Johann Heinrich Rothpletz und Franz Waller – zeigten staatsmännisches Format. Sie wechselten sich im Vorsitz zwischen der Deutschschweiz und der Romandie ab, bekräftigten an den im Zwei- bis Dreijahresturnus stattfindenden Schützenfesten von Basel bis Chur und von Genf bis St. Gallen den freundeidgenössischen Geist und bewahrten in den Wirren der Freischarenzüge und des Sonderbundskriegs Besonnenheit. Drei von ihnen, Henri Druey VD, Wilhelm Matthias Naef SG und Martin Josef Munzinger SO, trugen ihre SSV-Erfahrungen in den Bundesrat.
Facettenreiche Geschichte
Der Chronist Jürg Stüssi-Lauterburg beschränkte sich nicht auf die facettenreiche Darstellung der 200-jährigen Verbandsgeschichte. Er fasste sie in gut lesbare Kurzkapitel, gliederte sie in Zeitabschnitte und richtete als gewiefter Historiker den Blick auch auf die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Geschehnisse dieser Epochen. Schon in den Anfängen erwies der Schweizerische Schützenverein dem jungen, labilen Staatswesen einen doppelten Dienst, indem er nach dem Bundesvertrag von 1815 den eidgenössischen Zusammenhalt stärkte und nach dem Sonderbund-Bürgerkrieg, 1847, die Versöhnung förderte.
Die staatsbürgerliche und die militärische Schützenkultur berührten sich mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1848 und den obligatorischen jährlichen Schiessübungen, deren Durchführung den Schützenvereinen übertragen wurde und die Wehrpflichtigen automatisch zu Vereinsmitgliedern machte. Die Vereine übernahmen auch die Jungschützenkurse. Trotz latenten Spannungen mit den Bundesbehörden stützten die Schützen die Landesverteidigung. Mit zeitweise über einer halben Million Angehöriger galt der SSV als grösste Zivilorganisation des Landes. Und mit jeweils Zehntausenden Beteiligten an den jährlichen Feldschiessen und wiederkehrenden Eidgenössischen Schützenfesten stellte er weitere Rekorde auf.
Neben dem nationalen Zusammenhalt beschäftigte den Schweizerischen Schützenverein regelmässig die Verbundenheit in den eigenen Reihen. Es gab Differenzen über die Schiessdistanzen zwischen Feld- und Standschützen. Arbeiterschützen gründeten einen eigenen Bund. Neue Waffen und Wettkampfangebote riefen separate Interessengruppen auf den Plan. Hin und wieder plagten den Verband finanzielle Sorgen. Das «Friedensgefühl», das nach dem Kalten Krieg aufkam, veränderte die Sicherheitspolitik. Die Armee wurde verkleinert, die Schiessvereine verloren Hunderttausende «Pflichtmitglieder». Sportschiessen trat in den Vordergrund. 2002 fusionierten alle Schützenorganisationen zum Schweizer Schiesssportverband.
Umfassendes Nachschlagewerk
VBS-Vorsteherin Bundesrätin Viola Amherd stellt im Vorwort zum Schützen-Jubiläumsband fest, dass der Schweizer Schiesssportverband mit über 2500 Vereinen und rund 136 000 Mitgliedern nach wie vor zu den grössten Verbänden der Schweiz zählt. Sie erinnert auch an den Bronze- und Goldmedaillengewinn der Nidwaldner Schützin Nina Christen bei den Olympischen Spielen 2021 in Tokio. Dadurch vergrösserte sich der Medaillensegen von 67 Gold-, 45 Silber- und 33 Bronzemedaillen der Schweizer Schützen seit 1897 an Weltmeisterschaften und Olympiaden, wie Ludovico Zappa in einer akribischen Zusammenstellung im Buch nachweist.
Weitere Beiträge runden die Jubiläumsausgabe ab. Direktorin Regula Berger stellt das Schützenmuseum in Bern vor, das aus der Schützenstube hervorging, die anlässlich des Eidgenössischen Schützenfests 1885 eröffnet wurde. SSV-Geschäftsführer Beat Hunziker beschreibt, wie der Bäckerssohn, spätere Industrielle und begeisterte Schützenveteran Franz Stirnimann dem SSV die «Muggenburg» am Vierwaldstättersee in Luzern schenkte, die zum «Haus zum Schützen» und Sitz des Verbandssekretariats wurde. Der ehemalige Kurator am Landesmuseum Zürich Jürg Burlet gibt eine Übersicht über die Schützen- Ordonnanzwaffen von 1824 bis heute. Peter Johannes Weber beleuchtet das akademische Schützenwesen, in dem es bis auf wenige Schiessen, wie am jährlichen Centralfest der Zofingia in Zofingen, ziemlich still geworden ist.
Das Buch «Einer für alle, alle für einen» ist keine gewöhnliche Jubiläumsschrift, sondern ein mit wissenschaftlicher Akribie verfasstes Nachschlagewerk, wie allein das 80-seitige Anmerkungs- und Quellenverzeichnis bestätigt – aber dennoch ist es gut lesbar, wenn auch nicht in einem Anlauf.