Steuerfuss sorgt für hitzige Debatten

Am 27. November stimmt die Bevölkerung über das Budget 2023 ab. Stadtrat und Einwohnerrat empfehlen ein Ja. Dies gefällt nicht allen.
Urnenabstimmung zum Budget 2023. (Bild: Archiv)

Leo Geissmann, warum hat die Stadt Brugg aktuell so viel Geld «auf der Seite»? Wie ist es dazu gekommen, und was bezweckt sie mit dieser Reserve?
Leo Geissmann: Trotz der Erhöhung des Steuerfusses im Jahr 2013 konnte nie ein positives Betriebsergebnis erreicht werden. Der Steuerertrag hat nie ausgereicht, um das Betriebsergebnis auszugleichen. Das Nettovermögen ist in den vergangenen neun Jahren nicht wegen der Steuererhöhung im Jahr 2013 so stark angewachsen, sondern zum grössten Teil wegen folgender, steuerunabhängiger Zuflüsse:
– 22 Millionen Franken: Aufwertungen und Buchgewinne im Finanzvermögen
– 23 Millionen Franken: Rückzahlung von Darlehen und Beiträgen
– 4 Millionen Franken: Übertrag aus dem Nettovermögen von Schinznach-Bad
– 28 Millionen Franken: Erfolge aus der Vermögensverwaltung
Lediglich 9 Millionen Franken sind infolge geringer Investitionstätigkeit als Finanzierungsüberschüsse ins Nettovermögen eingeflossen.

Leo Geissmann Vizeammann, Stadt Brugg, Ressort Finanzen und Kultur: «Trotz der Erhöhung des Steuerfusses konnte nie ein positives Betriebsergebnis erreicht werden.»

Vor neun Jahren wurde der Steuerfuss um 5 Prozent erhöht, damit grosse Investitionen getätigt werden können. Welche Projekte waren damals im Visier, und was hat zu Verzögerungen geführt?
Mit der Steuererhöhung von 2013 wollte der Stadtrat primär dem strukturellen Defizit in der Betriebsrechnung begegnen, da insbesondere die gebundenen Ausgaben – vor allem im Gesundheitsbereich – ständig zugenommen hatten. Diese konnten mit Einsparungen in anderen Bereichen nicht mehr aufgefangen werden.

Ebenso wollte der Stadtrat mit dieser Massnahme die Selbstfinan­zierung aus der Erfolgsrechnung verbessern, um die Infrastruktur angemessen zu unterhalten und die Entwicklung der Stadt zu sichern. Für die kommenden Jahre waren Investitionen von durchschnittlich 7 Millionen Franken pro Jahr geplant. Unter anderem waren die folgenden Investitionsprojekte angedacht: Sanierung Alte Post, Sanierung Freibad, Ersatzbau Kindergarten Bilander, Sanierung und Erweiterung Schulhaus Stapfer, Busterminal Süd, Interessensbeitrag an die Südwestumfahrung und Strassensanierungen.

Aus welchen Gründen legt die Stadt Brugg einen grossen Teil des Vermögens an der Börse an, was risikobehaftet ist? Gäbe es Alternativen?
Beinahe acht Jahren lang war der Finanzmarkt geprägt von Negativzinsen. Reine Geldanlagen wurden durch die Banken mit Negativzinsen belastet. Statt Strafzinsen zu zahlen, konnte die Stadt Brugg mit den Vermögensanlagen mit einem ausgewogenen Anlagerisiko in den vergangenen zehn Jahren eine positive Rendite erwirtschaften.

Gesetzt den Fall, man senkt den Steuerfuss um 10 Prozent: Was geschieht dann konkret beziehungsweise welche Auswirkungen hat das für die Finanzstrategie der Stadt?
Eine Steuerfussreduktion um 10 Prozentpunkte würde die Erfolgsrechnung zusätzlich um durchschnittlich 3,5 Millionen Franken pro Jahr belasten. Ohne Abstriche beim Leistungsangebot könnte die kantonale Vorgabe eines mittelfristigen Haushaltsgleichgewichts nicht mehr eingehalten werden. Damit würden auch die Zielsetzungen der Finanzstrategie verletzt.

Zudem würde eine Reduktion des Steuerfusses die Handlungsfähigkeit der Stadt Brugg dahingehend einschränken, dass die im Legislaturprogramm festgelegten Ziele kaum mehr umgesetzt werden könnten.

Die Stadt hat einige Grossprojekte vor sich, welche einen hohen Investitionsbedarf ausweisen. Welche Auswirkungen wird dies auf die finanziellen Reserven haben? In welchem Zeitraum werden diese in welchem Rahmen zurückgehen?
In der Finanzplanung wurde aufgezeigt, dass bei einem gleichbleibenden Steuerfuss von 97 Prozent die Umsetzung der geplanten Investitionsvorhaben von jährlich 11 Millionen Franken bis im Jahr 2028 zu einem Abbau des Nettovermögens um 40 Millionen Franken führen wird.

Aus der weiterführenden Planung wird ersichtlich, dass das Netto­vermögen bis im Jahr 2032 um weitere 10 Millionen Franken abgebaut wird.

Die bei einer Steuerfussreduktion um 10 Prozentpunkte ohne Leistungsabbau fehlenden 3,5 Millionen Franken pro Jahr würden in den nächsten zehn Jahren zu einem weiteren Abbau des Nettovermögens um 35 Millionen Franken führen.

Peter Haudenschild, das Komitee für eine vernünftige Brugger Finanzpolitik kritisiert, dass die Erhöhung des Steuerfusses vor zehn Jahren um 5 Prozent der Stadt zwar mehr Einnahmen gebracht habe, die Realisierung grosser anstehender Projekte aber nicht erfolgt sei. Bei welchen Projekten wirft das Komitee dem Stadtrat konkret vor, nicht tätig geworden zu sein?
Peter Haudenschild: Wir werfen dem Stadtrat vor, dass er weder agiert noch reagiert hat, als er sehen musste, dass das Nettovermögen stetig und beschleunigt immer weiterwuchs. Das gilt namentlich für die letzten vier Jahre. Das Nettovermögen ist nun so gross, dass Brugg fast vier Jahre lang aus dem Vermögen leben könnte, ohne Steuern von natürlichen Personen zu erheben und ohne sich zu verschulden. Nehmen wir die erkennbaren «stillen» Reserven auf den IBB-Aktien dazu, sind es rund acht Jahre! Der Stadtrat wird effektiv wohl so weitermachen wie bisher. Warum sollte er es plötzlich ändern? Wir glauben nach zehn Jahren nicht mehr an den Storch.

Peter Haudenschild, Alt-Einwohnerrat (FDP) und Co-Präsident des Komitees für eine vernünftige Brugger Finanzpolitik: «Das Nettovermögen ist nun so gross, dass Brugg fast vier Jahre lang davon leben könnte.»

Der Stadtrat hält fest, dass das Wachstum des Nettovermögens, das in den vergangenen neun Jahren um 86 Millionen angewachsen ist, vorwiegend auf Effekten beruht, die nicht auf Steuerüberschüsse zurückzuführen sind, etwa auf die Aufwertung von Grund­stücken, Buchgewinne, Rückzahlungen von Darlehen, Erfolge aus der Vermögensverwaltung. Weshalb ist das Komitee trotzdem der Meinung, dass eine Senkung des Steuerfusses um 10 Prozent angebracht ist?
Der Stadtrat kann die Zunahme des Nettovermögens nicht durch Sondereffekte schönreden. Fakt ist, dass das Nettovermögen seit der Steuererhöhung vor zehn Jahren von 35 Millionen Franken auf 121 Millionen Franken angewachsen ist. Davon sind 90 Millionen Franken direkt über Banken an der Börse mit Risiko angelegt und frei verfügbar. Mit den erwähnten «stillen» Reserven auf den IBB-Aktien beträgt das Nettovermögen gar 273 Millionen Franken, über eine Viertelmilliarde Franken! Das ergibt für eine vierköpfige Familie rund 80 000 Franken, die sie zwangsweise bei der Stadtverwaltung angelegt hat. Das ist nicht Aufgabe der Stadt. Das ist nicht der Zweck von Steuern. Der Stadtrat verstösst damit gegen kantonales Recht.

Aus welchen Gründen plädiert das Komitee für einen Abbau des Vermögens infolge einer Senkung des Steuerfusses und nicht für die Verwendung des Vermögens zur Tätigung von Investitionen in die Infrastruktur und in die Stadtentwicklung wie beispielsweise die Sanierung Hallenbad, die Neugestaltung Neumarkt, die Entwicklung Stadtraum Bahnhof, die Schulraumplanung?
Jahr für Jahr wiederholt der Stadtrat, dass er in Zukunft das Nettovermögen für grosse neue Projekte benötige und zählte und zählt zahlreiche pendente Projekte auf. Das Nettovermögen stieg und stieg zehn Jahre lang dennoch unvermindert weiter. Der Stadtrat sprach selbst von einem «Luxusproblem». Er ist offenbar nicht in der Lage, dieses Problem zu lösen – warum auch immer. Wir glauben ihm nicht mehr. Das Geld gehört den Steuerzahlenden. Noch wichtiger ist aber, dass eine Stadt wie Brugg ihre Projekte mittelfristig und vor allem ihre Löhne ohnehin aus den laufenden Einnahmen finanzieren muss – und nicht mit seit zehn Jahren angespartem Vermögen, das dann einmal aufgebraucht wäre.

Das Komitee macht geltend, dass eine aktive Ansiedelungspolitik, die vorausschauend dynamisch agiert, neue und gute Steuerzahler nach Brugg locken kann. So will das Komitee der «schwindenden Finanzkraft» begegnen. Welche konkreten Massnahmen sollen Ihrer Meinung nach vorwiegend finanzkräftige Steuerzahler nach Brugg locken?
Das Komitee will erstens kontrolliert im Total über zehn Jahre maximal 20 Millionen Franken des übergrossen Nettovermögens von 121 Millionen Franken investieren in eine Ansiedlungspolitik für gute Steuerzahler, die diesen Namen verdient. Zweitens kehren wir zum früheren, vernünftigen Steuerfuss zurück – macht minus 5 Prozent –, und drittens geben wir vorläufig dem Steuerzahler die seit Jahren zu viel bezahlten Steuern als Rabatt zurück – minus weitere 5 Prozent. Das ist eben eine schlaue Steuersenkung: drei Fliegen auf einen Schlag.

Die Realisierung der Ansiedelungspolitik ist einem Profi im Leistungsauftrag zu erteilen, zum Beispiel einem erfolgreichen ehemaligen CEO, der sich selbständig macht, und eine solche Aufgabe als neue Herausforderung sieht. Die zusätzlichen Steuern der guten Steuerzahler dürften mittelfristig den Minderertrag infolge Steuerfusssenkung gar ausgleichen. Mit einer Evaluation ist nach fünf beziehungsweise zehn Jahren Bilanz zu ziehen und zu justieren. Davon, also von mehr guten Steuerzahlern, profitieren alle, wirklich alle.

Die vorgeschlagene Massnahme des Komitees, den Steuerfuss um 10 Prozent zu senken, käme vorwiegend finanzstarken Steuerzahlern zugute. Aus welchen Gründen spricht sich das Komitee dafür aus, diese zu entlasten?
Die erfolgreiche Ansiedlungspolitik und ein tiefer Steuerfuss entlasten alle. Ausgenommen sind natürlich jene, die keine Steuern zu bezahlen brauchen. Wer bisher viel zu viel Steuern bezahlt hat, bekommt auch viel zurück. Wer wenig oder gar nichts zu viel bezahlt hat, bekommt wenig beziehungsweise nichts zurück. Die Steuerprogression sorgt bereits für eine gerechte Umverteilung. Bei dieser «Rückzahlung» braucht es nicht noch eine weitere. Das wäre sachlich falsch und unfair. Dafür profitieren alle, auch «Steuerfreie», von einem Aufschwung und vor allem von guten Steuerzahlenden.