«Wir werden algorithmisch gemobbt»

Der Berner Pop-Künstler Semih Yavsaner alias Müslüm spricht auf seinem Album «Popaganda» und im Interview Klartext.
Kommt am 18. März ins Brugger Salzhaus: Müslüm. (Bild: zVg | Yannis Blättler)

Müslüm, wie oft haben Sie sich schon «gegugelet»?
Schon ab und zu mal, weil ich wissen will, wie präsent Semih ist, oder wenn ich gewisse Artikel über Müslüm nicht mehr finde.

Wissen Sie, wie viele Hits es sind, wenn man Müslüm und Semih Yavsaner eingibt?
Nein, keine Ahnung.

Was schätzen Sie?
Es gab mit Müslüm Gürses auch in der Türkei einen Müslüm, der sehr erfolgreich war. Von daher würde ich sagen: 500 Millionen Hits, und bei Semih Yavsaner vielleicht 32 000.

Es sind 10 Millionen und 5000. Ein krasser Unterschied, der Sie freut?
Ja, ich empfinde es als wertvolle Erfahrung, sowohl in einer gewissen Anonymität leben zu können wie auch eine Plattform zu haben, auf der ich mich als Künstler ausdrücken kann. Wenn ich als Müslüm unterwegs bin, werde ich laufend angesprochen, während Semih fast unerkannt durch die Gegend geistert.

Wie wichtig ist es Ihnen, im Interesse Ihrer Kinder zwischen Semih und Müslüm eine klare Grenze zu ziehen?
Ich lege darauf grossen Wert, und es gelingt mir auch gut. Es hilft sicher, dass sich ihr Vater und seine Figur sehr stark unterscheiden. Ausserdem bin ich für meine Kinder sehr präsent, während Müslüm zu Hause praktisch nicht stattfindet. Ich mache höchstens mal einen Müslüm-Spruch oder lese ihnen auf seine Art eine Gutenachtgeschichte vor – aber das mögen sie nicht mal so! (Lacht)

Zurück zu «Gugele». Wie sind diese intelligente Tanznummer und das tolle Video entstanden?
Am Anfang stand das Gefühl, dass wir heutzutage algorithmisch gemobbt werden. Wenn man «gugelet», taucht dieser Ausdruck zwar noch nicht auf, doch kann ich umschreiben, was ich damit meine: Wir sind alle soziale Wesen, die nach Zustimmung suchen. Die Verschiebung unseres Lebensschwerpunkts in die digitale Welt sorgt jedoch dafür, dass der Algorithmus darüber entscheidet, ob wir diese Zustimmung bekommen. Wir geraten immer mehr in Abhängigkeit von dieser Instanz und sind uns dessen in den meisten Fällen nicht einmal bewusst. Die einzige Waffe, die wir dagegen einsetzen können, ist die Kunst!

Wie funktioniert das?
Wahre Kunst ist nonkonformistisch und freidenkerisch. Allerdings ist es hart, wenn man sein Budget überzogen und dann fast kein Echo hat. Ich frage mich, weshalb ein qualitativ hochwertiger Clip nur 25 000 Klicks bekommt. Das kann doch nicht nur daran liegen, dass sich immer weniger Leute drei Minuten auf etwas konzentrieren und einen kritischen Gedanken fassen können.

Wie erklären Sie es sich dann?
Der Song wurde kaum im Radio gespielt, und Rückmeldungen gab es auf dem Netz in den ersten drei Tagen kaum. Ich habe das Gefühl, dass ich wegen der Thematik auf einer «schwarzen Liste» gelandet bin und gebremst werde.

Dann will Google Schweiz mit «Gugele» wohl keine Werbung machen …
Nein, dieser Konzern muss eh keine Werbung mehr machen. Er hat schon eine gottähnliche Stellung.

Zwei ähnliche Positionen sind letztes Jahr frei geworden. Wäre Bundesrat kein Job für Sie?
Ich denke, die Kompromissbereitschaft, die für dieses Amt erforderlich ist, wäre weder für mich noch für Müslüm etwas. Es wäre zwar lustig mit uns, aber wir würden sicher nicht wiedergewählt! (Lacht)

Wenn Sie mit Müslüm nicht in die Politik gehen wollen, was möchten Sie dann mit ihm ausleben?
Ich kann als Müslüm auf die Spitze treiben, was ich als normaler Mensch nicht könnte, ohne in meiner sozialen Gruppe alles zu verlieren.

Wann sind Sie eigentlich zum ersten Mal in eine andere Rolle als Semih geschlüpft?
Ich habe als Erstklässler begonnen, meine Stimme am Telefon zu verstellen und mich als jemand anders auszugeben. Später habe ich mit anderen Jugendlichen für nichts ahnende Nachbarn Pizzas bestellt. Sowas war in den Achtzigern noch Hardcore! (Lacht)

Wann sind Maskierung und Verkleidung dazugekommen?
Der amerikanische Kulturimperialismus hatte auch mich in seinen Bann geschlagen. Ich trug als Teenager breite Hosen und stylte meine Frisur wie eines meiner damaligen Idole, Vanilla Ice. Als ich mir dann in den Ferien in der Türkei wie er drei Striche in die Haare rasieren liess und deswegen abends im Lunapark wie ein Ungläubiger angeglotzt wurde, war mein Vater so genervt, dass ich mir am nächsten Morgen vom Coiffeur eine Glatze schneiden lassen musste.

Waren Sie auch ein Fan von Viktor Giacobbos Figuren?
«Viktor’s Spätprogramm» ist noch an mir vorbeigegangen, aber «Giacobbo Müller» kannte ich. Eine Inspiration waren die Witze von Gusti Brösmeli, den ich für mich entdeckte, als mir durch Zufall eine seiner Kassetten in die Hände fiel.

Wie lange brauchen Sie eigentlich, um sich in Müslüm zu verwandeln?
Etwa 40 Minuten. Je älter ich werde, desto weniger lange! (Lacht)

Wo finden Sie seine schrillen Kleider?
Ich beschäftige mich gern mit dem Thema Mode und probiere neue Sachen aus. Beim Outfit, das ich im «Popaganda»-Video trage, sollte das Globale erkennbar sein. Es besteht aus Converse Schuhen, hohen Stulpen, die das Genderthema aufnehmen, und einem Trägershirt unter einem punkigen Veston.

Ist beim Albumtitel eigentlich ein r verloren gegangen?
Genau. Das Weglassen des r ist der Witz an der ganzen Sache. Ich propagiere mit meinem Pop meine Propaganda.

Eine Zeile des Titelsongs lautet «Immer schön in der Mitte sein wie ein Tanga». Ein starkes Bild, aber was soll es bedeuten? Der Song heisst ja nicht «Po-paganda» …
Nach «Süpervitamin» und «Apochalüpt», einem ultrapositiven und einem negativen Album, war es mein Wunsch, die goldene Mitte zu finden – nicht oben oder unten, schwarz oder weiss, alt oder jung, sondern zentriert wie ein Mandala!

Samstag, 18. März, 20.30 Uhr
Salzhaus, Brugg
salzhaus-brugg.ch