In der Welt von Göller und Ghänk

Stoffe, Spitzen und Stickereien: Sie sind das Metier von Sylvia Neuhaus. Nun zeigt die Windischerin ihre Trachtenkunst der Öffentlichkeit.
Sylvia Neuhaus in ihrer selbst genähten Brugger Festtagstracht mit ihren Trachten-«Bäbi». (Bild: aru)

In der Lagerhalle an der Mülligerstrasse 90 in Windisch herrscht derzeit Festbetrieb. 37 Puppen im Trachtenlook, mit Leidenschaft und Feingefühl inszeniert, empfangen die Besucherinnen und Besucher. Schirmherrin Sylvia Neuhaus kennt sie alle mit Namen – und wenn sie mit Elisa, Karoline, Camilla und Johannes spricht, ist es, als würden die «Bäbi» lebendig. Dem Trachtenfieber verfallen ist die Windischerin, die als Kind einer Wettinger Mutter und eines jurassischen Vaters in Biel aufgewachsen ist, seit 2009. Als sie damals bei der Produktion der Oper Schenkenberg als Schneiderin im Einsatz war, lernte sie ein Mitglied der Trachtengruppe Schinznach-Dorf kennen. «So bin ich reingerutscht», erzählt die 68-Jährige in breitem Berner Dialekt mit «Bilingue»-Einschlag. Und alsbald brauchte sie eine eigene Tracht. Sylvia Neuhaus fand ein Occasionsmodell einer Brugger Sonntagstracht, bei der die Stickereien aber nicht mehr in gutem Zustand waren. Und so meldete sich die kreative Handwerkerin beim Schweizerischen Trachtenverband für einen Stickkurs an. «Es hat mich richtig erwischt, ich konnte nichts dagegen tun», sagt sie lachend.

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Hier hat Sylvia Neuhaus einen Schmuckladen eingerichtet.

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Trachtengruppe in der Ausstellung in Windisch. (Bilder: aru)

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Mit Tutorials zum Lochmuster
Sie blieb dem Sticken treu, organisierte selbst Trachtenstickkurse auf nationaler Ebene und wurde schliesslich vom Verband als offiziell einzige Trachtenstickerin im Kanton Aargau anerkannt. Und als wäre das Sticken der filigranen floralen Motive – «wir dürfen im Aargau alles verwenden ausser Enziane und Edelweiss» – nicht schon sportlich genug, lernte Sylvia Neuhaus daneben die weiteren Arbeitsschritte, die für eine Tracht nötig sind. Das Filogieren, das für die Handstulpen gebraucht wird, brachte ihr eine Bruggerin bei, das Stricken der Socken mit Lochmuster übte sie mittels Tutorials ein. «Ich war über Weihnachten 2020 allein im Ferienhaus und wollte zuerst einfach nähen», erzählt sie. «Doch dann hat mich das Stricken gepackt.» Sie habe zwar als Kind viel «glismet», sei aber aus der Übung gewesen. «Ich habe das ganze Youtube nach Tutorials durchforstet und habe nicht aufgegeben, bis ich es konnte», erzählt Sdie Windischerin schmunzelnd.

Ihre Leidenschaft für Handarbeiten kombinierte Neuhaus mit zwei weiteren Hobbys: dem Sammeln von alten Nähmaschinen und von Puppen der Künstlerin Sissel B. Skille aus der Götz-Manufaktur. Diese – sie erschienen in limitierter Auflage und werden seit 2007 nicht mehr produziert – sucht Sylvia Neuhaus via Internet auf der ganzen Welt zusammen. «Inzwischen kann ich auf ein grosses Netzwerk zurückgreifen», sagt die Trachtenliebhaberin stolz. «Und ich weiss von jeder Puppe ganz genau, woher sie kommt.» Doch nicht nur die «Bäbi» kommen aus aller Welt, auch bezüglich deren Kleidung ist Sylvia Neuhaus in Kontakt mit den verschiedensten Spezialisten. Die Schuhe für die Puppen – die am Ende mit einer Silberschnalle verziert werden – bestellt sie bei einer Puppenschuhwerkstatt in Norddeutschland, den Trachtenschmuck im Miniformat bei einem spezialisierten Silberschmied in Langnau. Keine Frage: Was Trachten angeht, ist Sylvia Neuhaus mittlerweile eine ausgewiesene Expertin.

Sylvia Neuhaus hat alle Arbeitsschritte dokumentiert. (Bild: aru)

Um ihr umfassendes Wissen weiterzugeben – «wir benötigen dringend Nachwuchs auf dem Gebiet des Trachtenhandwerks» –, hat sie alle Arbeitsschritte, die sie während sechs Monaten beim Nähen ihrer Brugger Festtagstracht gebraucht hat, fein säuberlich dokumentiert und fotografiert. Das Material möchte sie digital allen Interessierten zur Verfügung stellen. Der Ordner liegt auch anlässlich der Ausstellung in Windisch auf. Hier finden sich zum Beispiel die detaillierten Arbeitsschritte fürs Göller – so wird das samtene Achselstück genannt – die Haube, die Bluse und die Schürze.

Regionale Eigenheiten
Ebenso detailreich weiss Sylvia Neuhaus beim Gang durch die Ausstellung zu berichten. «Dieser Ärmel hier hat eine Quatschfalte und kein Bündli, die Zofinger Festtagstracht erkennt man an ihrem hellen Brustlatz, und das hier ist die Vrenelitracht aus Zurzach, die ihren Namen von der heiligen Verena hat», erklärt sie. Zu sehen sind am kommenden Wochenende insgesamt
37 Trachten, davon 31 aus dem Aargau und sechs aus dem Kanton Bern. «Jede Region hat ihre Eigenheiten», sagt Neuhaus und zeigt auf ein Göller. «Das ist nur bei der Aarauer Tracht viereckig, alle anderen Trachten im Berner Aargau haben ein dreieckiges Göller.»

Kreativ war Sylvia Neuhaus schon immer – so ist sie mit Bauern- und Porzellanmalerei sowie mit modernen Scherenschnitten an die Öffentlichkeit getreten. Daneben hat die Mutter von zwei erwachsenen Kindern voll im Familienunternehmen mitgearbeitet. Mittlerweile hat Sylvia Neuhaus die auf Etikettendruck spezialisierte Windischer Firma ganz ihrem Mann Peter und der jüngeren Generation überlassen. So bleibt ihr viel Zeit für ihre aufwendigen Leidenschaften. Nebst dem Fertigen von Trachten ist die Handwerkerin eine versierte Tänzerin. Gemeinsam mit ihrem Mann – «er ist ein Naturtalent» – tanzt sie beim Trachtenverein Schinznach-Dorf und beim Trachtenverein Würenlos mit. «Hier kommen die Trachten richtig zum Einsatz», erklärt sie schmunzelnd. Krönen wird Sylvia Neuhaus ihre Ausstellung mit einem grossen privaten Fest, das am 6. Juni, am «Tag der Tracht», über die Bühne geht. Dann wird sie einen Abend lang das Tanzbein schwingen – in ihrer handgemachten Festtagstracht, die mit dem traditionellen Schmuck, zu dem das typische «Ghänk» an der Seite gehört, ausgestattet ist.

Ausstellung
Samstag, 3. Juni, 14 bis 19 Uhr
Sonntag, 4. Juni, 14 bis 19 Uhr
Mülligerstrasse 90, Windisch