Der Rutenzug heute und vor 50 Jahren

Am Jugendfest 1973 gabs beim Zapfenstreich eine Verabschiedung – und Freibier.
Mädchen der Oberstufenklassen am Umzug. (Bild: zVg)

Das Programm des Rutenzugs hat sich über die Jahre verändert, dennoch ist vieles gleich geblieben. Die Büscheliwoche begann vor fünfzig Jahren am Montag mit den Kadetten, die das «Mies» in die Stadt brachten. Am Mittwochabend fand der Zapfenstreich statt. Der Auftakt zum schönsten «Prophetenstädtchen-Anlass» wurde damals mit der Feier zum Abschied von Stadt­ammann Eugen Rohr verbunden, der zum Oberrichter gewählt worden war. Bei Freibier und Schinkenbroten traf sich die Brugger Bevölkerung auf der Schützenmatt und verabschiedete den scheidenden «Stadtzeugen». Zahlreiche Redner, darunter der Rottweiler Oberbürgermeister Regelmann, würdigten Rohr. Gleichzeitig konnte sein Nachfolger, der kürzlich verstorbene Hans Peter Howald, begrüsst werden.

Der Rutenzug begann wie heute mit der Tagwacht um 6 Uhr. Während auf dem Hexenplatz elf Böllerschüsse aus zwei alten Kanonen abgegeben wurden, weckten unten in der Altstadt die Tambouren die Menschen. Anschliessend besammelten sich die Schülerinnen und Schüler bei der Spiegelgasse für den Umzug.

Speziell am Jugendfest 1973 waren die Kadetten, die damals zum letzten Mal mitmarschierten. Vorher waren sie während Jahrzehnten ein wichtiger Bestandteil des Rutenzugs. 1973 marschierten sie bereits ohne Uniform und Gewehr und nicht mehr im militärischen Stil. In den Jahren danach gab es immer wieder freiwillige Kadettenzüge, das letzte Mal vor zwanzig Jahren. Nach dem Umzug folgte im Freudenstein die Morgenfeier. Dort wurden vor fünfzig Jahren «Gang lueg d Heimat a», das «Aargauer Lied», «An das Vaterland», «Grosser Gott», das «Bruggerlied», das «Wanderlied», «Der Fussgänger» sowie der «Schweizerpsalm» gesungen. Von diesen vielen Liedern werden heute nur noch «Grosser Gott» und das «Bruggerlied» zusammen mit dem neueren Lied «Brugg international» gesungen.

Lehrer der Bezirksschule Brugg am Umzug. (Bild: zvg)

Ganz speziell beim Rutenzug 1973 war der Jugendfestredner. Das erste und einzige Mal im 20. Jahrhundert hielt ein Schüler die Jugendfestrede, nämlich der neunzehnjährige Kantonsschüler Rolf Theiler. Er wurde von der Lehrerschaft ausgewählt. Gemäss seinen Worten war Theiler sehr nervös, vor all den Leuten zu sprechen. Er wollte nicht, dass man ein schlechtes Bild von jüngeren Menschen bekam, und es war ihm ein Anliegen, den älteren Leuten zu zeigen, was die Jungen können. Also hatte er beschlossen, viel an seiner Rede zu arbeiten, um sie am Rutenzug gut zu präsentieren.

Seine Rede war anders als gewohnt, denn ältere Menschen, die meistens die Jugendfestrede halten, können sich einfach auf Erzählungen aus ihrer Jugendzeit stützen. Rolf Theiler jedoch war erst drei Jahre zuvor aus der Bezirksschule ausgetreten. In seiner Rede befasste er sich damit, wie sich seine eigene Auffassung über das Jugendfest verändert hatte. Ausserdem hob er hervor, wie wichtig das Jugendfest für die Bewohnerinnen und Bewohner von Brugg sei und dass sie das Fest im Kern bewahren sollten, selbst wenn sich die Zeiten änderten.

Das Nachmittagsprogramm begann vor fünfzig Jahren erstmals mit drei Böllerschüssen als Zeichen für das Schönwetterprogramm. Um 14 Uhr besammelten sich die Schüler in der Schulthess-Allee, und die Schaulustigen stellten sich entlang der Hauptstrasse auf, während der ganze Verkehr durch die Altstadt rollte. Eine besondere Stimmung kam auf, als der Verkehr angehalten wurde und Ruhe einkehrte, bevor sich um 14.15 Uhr der Zug zum Festplatz auf der Schützenmatt in Bewegung setzte. Für die Kindergärtner gibt es heute noch einen Zug zum Festplatz, die Primar- und Oberstufenschüler treffen sich jedoch in der Altstadt für Spiele. 1973 gab es andere Sportangebote. Es gab wie heute kleine Spiele, aber auch das Handballfinale, und die Mädchen der Bezirksschule tanzten Reigen. Später mussten die Knaben mittanzen, heute sind die Reigen freiwillig. Die Sportturniere werden 2023 erstmals nicht mehr stattfinden. In der Schützenmatt-Turnhalle gab es um 16.30 Uhr Erfrischungen für die Kinder und Jugendlichen. Beim Abendprogramm gab es Livekonzerte und Tänze. Vor fünfzig Jahren besammelte man sich um 21.30 Uhr für das Feuerwerk und den darauffolgenden Heimzug. Seit der Einführung der Sommerzeit findet alles eine Stunde später statt.

Laut «Brugger Tagblatt» markierte das Jahr 1973 einen Wendepunkt. Das ehemalige Fest der Jugend wandelte sich zu einem Fest für die ganze Bevölkerung von Brugg. Ursprünglich war der Rutenzug ein feierlicher Anlass, bei dem sich die ganze Jugend in voller Pracht zeigen konnte. Also war es eigentlich nur eine Feier für die Jugend. Mit der Zeit wurde die Stadt Brugg grösser, damit veränderte sich der ehemals familiäre Charakter des Jugendfests. Aus dem kleinen Umzug der Jugend durch die Strassen von Brugg wurde ein besonderes Fest, das mit den Böllerschüssen der Tagwacht beginnt und mit dem auf das Feuerwerk folgenden Heimzug zu einem Ende kommt.

Rolf Theiler Festredner 1973
Der damalige Jugendfestredner Rolf Theiler blickt ein halbes Jahrhundert später zurück auf 1973, als die Jugendfestkommission zur Abwechslung eine junge Person als Festredner auftreten lassen wollte: «Ich war nicht der Einzige, der damals angefragt wurde. Warum die Wahl am Ende auf mich fiel? Das hatte vielleicht etwas damit zu tun, dass ich in meinem letzten Jahr an der Bezirksschule Brugg 1970 Kadettenhauptmann gewesen war. Zunächst war mir die Anfrage peinlich, weil ich ein eher introvertierter Typ bin, der öffentliche Auftritte scheut. Aber nach etwas gutem Zureden meiner Mutter habe ich mich entschlossen, diese Aufgabe anzunehmen, zumal ich sofort wusste, wovon meine Rede handeln würde: nämlich vom Umweltschutz ganz allgemein und insbesondere vom Gewässerschutz. Im ‹Bruggerlied› kommt nämlich die Verszeile vor: ‹Los, d Aare rüeft: Jetzt zeiged Muet und chopfvora i d Wirbelfluet.› In die Aare schwimmen zu gehen, wäre damals gar keine gute Idee gewesen, denn die Aare bei Brugg war damals eine schäumende Gülle. Es hat viele Jahre gedauert, bis praktisch jede Gemeinde über eine gut funktionierende Kanalisation mit Kläranlage verfügte. Der Gewässerschutz war zweifellos eine der erfolgreichsten Initiativen, die in meiner Lebenszeit in der Schweiz realisiert wurden. Touristinnen und Touristen aus China geraten in Luzern ganz aus dem Häuschen, wenn sie sehen, dass der Vierwaldstättersee heute Trinkwasserqualität hat. Es war ein prächtiger Sommertag. Ich erinnere mich an den festlichen Umzug durch die Stadt, bruchstückweise an meine Rede und an das feine Essen, das mir danach im (damaligen) Restaurant Rotes Haus spendiert wurde. Für uns Teenager hatte das Brugger Jugendfest einen grossen Stellenwert – besonders natürlich das ‹Tüschle›. Ich habe mir die Granatapfelblüten, die ich von meiner Jugendfreundin geschenkt bekam, vorn ans ‹Käppi› der Kadettenuniform gesteckt. Heute ist der Rutenzug eine schöne Erinnerung an meine Jugendzeit in Brugg.»

Rolf Theiler wusste schon im Alter von zehn Jahren, dass er Naturforscher werden wollte. Nach der Matura 1974 studierte er an der Uni Zürich Mikrobiologie und promovierte 1983 an der ETH Zürich. Anschliessend war er zunächst Postdoc an der University of California, San Diego in La Jolla und später Assistant Professor an der Rutgers University in Piscataway, New Jersey. 1990 kehrte er in die Schweiz zurück und ist seither über das Pensionierungsalter hinaus in der Pharmabranche als Projektleiter aktiv.

Rolf Theiler Festredner. (Bild zvg)