«Die heutige Jugend sollte jetzt mitreden»

Bis zum 16. Juli kann die Bevölkerung ihre Meinung zum GVK einbringen. Das Interesse ist gering. Die beiden Projektleiter im Interview.
Frank Rüede und Stephan Erne an einer der Hauptachsen, der Bruggerstrasse beim Merker-Areal. (Bild: is)

Nur 140 von rund 80 000 Betroffenen haben bei der letzten E-Partizipation zum GVK ihre Meinung eingebracht – das sind knapp zwei Promille. Warum interessieren sich nicht mehr Menschen für dieses zukunftsweisende Projekt?
Frank Rüede: Diese Rücklaufquote entspricht jener von ähnlichen Befragungen, das war uns bewusst. Wir wollen trotzdem den Menschen – vor allem der jungen Generation – die Chance geben, mitzureden und ihre Zukunft mitzugestalten. In zwanzig Jahren, wenn das neue GVK greifen soll, sind viele heute arbeitstätige Leute im Ruhestand und haben andere Mobilitätsbedürfnisse. Die heutige Jugend ist dagegen direkt und stark von künftigen Massnahmen betroffen und sollte diese deshalb aktiv mitgestalten. 

Stephan Erne: Dem kann ich nur zustimmen. Die Menschen und insbesondere die Jungen sollten jetzt mit­reden und nicht erst, wenn die Mobilitätssituation noch schlimmer wird und es noch mehr wehtut. Die Bevölkerung kann auf zwei Arten Einfluss nehmen: einerseits durch die tägliche Entscheidung, wie sie sich fortbewegt, andererseits dadurch, dass sie bei der Planung des Kantons ihr Mitspracherecht nutzt.

Rüede: Bis 2040 wird die Bevölkerung – und damit der Verkehr – um rund 30 Prozent zunehmen. Und wenn man nichts tut, wird es eine schleichende Verschlechterung geben. Das will der Kanton nicht. Wir wollen weiterhin eine wirtschaftlich starke Region – und diesen attraktiven Lebensraum gemeinsam mit der Bevölkerung gestalten. Diese Bereitschaft, die der Kanton Aargau hier zeigt, gab es noch nie. Wir haben für die künftige Mobilität im Raum Baden und Umgebung ein Partizipationsangebot geschaffen, das wirklich einzigartig ist. Die E-Partizipation ist nur ein Element.

Der Verkehr wird um 30 Prozent wachsen – werden die Staus künftig noch länger?
Erne: Wenn wir nichts tun: ja. Wenn das Wachstum der Bevölkerung kommt, wird man im Raum Baden künftig sehr lang im Stau stehen. Wir müssen deshalb überlegen, wo das Auto noch die richtige Wahl ist und wo es Alternativen gibt. Damit kommen alle besser voran, die wirklich auf das Auto angewiesen sind, zum Beispiel Handwerker oder Aussendienstmitarbeitende.

Die Kommentare zur E-Partizipation kommen vor allem von älteren Menschen. Warum nutzen die Jüngeren diese Chance nicht?
Erne: Das ist tatsächlich eine unserer Herausforderungen. Viele ältere Menschen haben mehr Zeit, sich mit solchen Themen zu beschäftigen. Uns ist bewusst, dass wir mit unseren teilweise komplexen Informationen fordern. Aber es muss auch die nächsten Generationen interessieren, sie werden die Massnahmen erleben und sollen davon profitieren. Denn wohin gehen sie in den Ausgang? Wo besuchen sie die Schule, machen ihre Ausbildung? In der Region Baden und Umgebung! Deshalb betrifft diese Diskussion uns alle, unabhängig vom Alter. 

Vielleicht müsste man die Kommunikationskanäle der jungen Menschen nutzen, etwa mit Social Media oder ganz trivial mit Plakaten?
Erne:
Social Media nutzen wir bereits, wir kommunizieren auf verschiedenen Kanälen. Wir können das sicher intensivieren und die Informationen noch anschaulicher vermitteln. Am Ende des Tages bleibt es halt technisch, besonders in der jetzigen Phase mit ­Lösungsansätzen und Spielräumen. Wenn es ab 2024 in Richtung Massnahmen geht, werden wir versuchen, die Jungen noch mehr abzuholen. Schon jetzt hat die Jugendpartizi­pation einen höheren Stellenwert als bei früheren Planungen. So werden wir in unserem GVK von drei Klassen der Kantonsschulen Baden und Wettingen begleitet. Sie sind Teil der Partizipation und haben spannende Inputs geliefert. 

Rüede: In einem nächsten Schritt werden voraussichtlich Plakate ein Thema sein. Und wir werden direkt vor Ort in den betroffenen Gemeinden informieren. Denkbar ist, dass wir dann mehr mit Karten arbeiten. Mit diesen könnten wir zeigen, wo welche Massnahmen geplant sind, und die Menschen könnten in der Partizipation dazu Stellung nehmen. Das wäre ein anderer Zugang.

Sind denn Meinungen von Laien überhaupt erwünscht, oder sind sie eher kontraproduktiv?
Erne: Natürlich, sonst würden wir keine so breit angelegte Partizipation machen! Die breite Bevölkerung kommt ja nicht nur in der E-Partizipation zu Wort, auch in der 150-köpfigen Mobilitätskonferenz des GVK sitzen nicht nur Fachpersonen. Und alle Mitwirkenden bringen ihre persönlichen Meinungen sehr klar ein, was uns sehr freut. Natürlich müssen wir diese manchmal dem harten Urteil der Realität und des fachlich Machbaren aussetzen. Beispielsweise ist es eine wichtige Erkenntnis, dass der Verkehr in der Region zum grössten Teil durch kürzere, regionale Fahrten entsteht.

Wie misst man so etwas?
Erne: Mittels einer umfangreichen Nummernschilderhebung konnten wir die Verkehrsströme nachweisen. Dabei hat sich gezeigt, dass es wenig Durchgangsverkehr gibt. 90 Prozent des Verkehrs ist «hausgemacht», nur 10 Prozent fahren durch die Region hindurch, zum Beispiel auf die Autobahn. Der Grund liegt in der wirtschaftlichen Attraktivität: In der Stadt Baden arbeiten 29 000 Menschen, aber nur 5000 davon wohnen in der Stadt. Also kommen jeden Morgen mehr als 20 000 Menschen in die Stadt hinein und fahren am Abend wieder hinaus – über ein paar wenige Strassen, die in Baden zusammentreffen. Die Situation mit dieser engen Klus ist topografisch wirklich anspruchsvoll.

Rüede: Der Kanton arbeitet konstant daran, möglichst gute Rahmenbedingungen für die Menschen und die Wirtschaft zu gestalten. Wenn man nichts tut, nimmt die Attraktivität dieses Raums als Wohn- und Wirtschaftsstandort langsam ab. Eine gute Erreichbarkeit und eine siedlungsverträgliche Mobilität sind wichtige Faktoren und Ziele, die wir gemeinsam erreichen wollen. 

Oft wird kritisiert, die Massnahmen brächten nur Baden ­etwas.
Erne: In der Region leben heute etwa 80 000 Menschen, künftig werden es 100 000 sein. Baden kann nicht ohne Gemeinden rundherum existieren, umgekehrt ebenso wenig. Die Mobilität macht nicht an der Stadt- oder Gemeindegrenze halt, sie betrifft den ganzen Raum. Die Herausforderungen der künftigen Mobilität sind deshalb nur lösbar, wenn alle Gemeinden am gleichen Strick ziehen.

Rüede: In den letzten 20 Jahren haben diese Herausforderungen stetig zugenommen. Der Raum wird immer knapper, zudem haben die beteiligten Gemeinden teilweise unterschiedliche Voraussetzungen und Erwartungen. Es ist nicht einfach, wenn städtische Zentren und ländliche Gemeinden eine gemeinsame Lösung finden wollen. Auch deshalb führen wir diesen Partizipationsprozess durch. Als Kanton sind wir überzeugt, dass es gelingen wird. Sonst ufert es aus, und wir können nicht verdichten und die Siedlung und den Verkehr nicht sinnvoll aufeinander abstimmen – das verlangt der Bund aber mit dem neuen Raumplanungsgesetz von 2014.

Übergeordnetes Ziel müsste ja sein, die Menschen aus den umliegenden Gemeinden möglichst gut mit dem öffentlichen Verkehr (ÖV) in die Stadt zu bringen. Nicht alle haben aber gute Verbindungen, und die Umsteigepunkte genügen den Anforderungen oft nicht.
Rüede: Weil die ÖV-Verbindungen aus den ländlicheren Gebieten manchmal nicht sehr gut sind, hat der Kanton in den letzten Jahrzehnten ein dezentrales Park-and-Ride-System aufgezogen, damit man das Auto an den Bahnhöfen abstellen kann und mit dem ÖV weiterfährt. Natürlich können so nur gewisse Fahrten abgedeckt werden. Diskussionen zu neuen Umsteigepunkten Auto/Bus an wichtigen Buslinienknotenpunkten werden deshalb in Zukunft sicher zunehmen.

Erne: Wir müssen differenzieren. Wenn jemand in Nussbaumen wohnt und im Oberen Freiamt arbeitet, ist das mit dem ÖV sehr umständlich. Aber es ist nicht primär diese Autofahrt, die wir auf den ÖV verlagern möchten. Wir müssen ein Angebot schaffen, damit alle, die gute Alter-nativen haben, ein anderes Verkehrsmittel wählen. Denn wir haben zunehmend weniger Möglichkeiten, um die Kapazitäten der Strassen zu erhöhen. Wir müssen die Infrastruktur optimal nutzen, um Raum für die anderen Verkehrsmittel zu schaffen.

Wie schafft man das?
Erne: Wir sehen vor, dass der regionale Autoverkehr plafoniert wird. Das bedeutet, dass das ganze künftige Verkehrswachstum durch den ÖV, den Fahrrad- und Fussverkehr aufgefangen werden muss. Dieses Ziel ist ambitioniert, aber realistisch. Es wurde von Mobilitätskonferenz und E-Partizipation mehrheitlich unterstützt und von allen zehn Stadt- und Gemeinde­räten genehmigt. Das ist eine wichtige Basis für die weiteren Planungen.

Rüede: Ganz allgemein streben wir bei der Verlagerung auf den Fuss- und vor allem auf den Veloverkehr einen Quantensprung für den ganzen Raum Baden und Umgebung an. Mit den bereits geplanten und den angedachten Massnahmen kann uns das gelingen.

Wie ist der Zeitplan des GVK?
Rüede: Die Planung wird 2024 abgeschlossen, danach startet das ordentliche Richtplanverfahren. Nach einer öffentlichen Anhörung – übrigens auch das eine Form der Partizipation – geht es in den Regierungsrat und in den Grossen Rat, der über das weitere Vorgehen entscheidet. Manches wollen wir möglichst schnell umsetzen, erste Velomassnahmen etwa könnten schon ab 2028 greifen. Grössere Projekte wie neue Strassen oder ein Ausbau des ÖV-Angebots brauchen natürlich viel länger. Ziel ist, das Konzept bis 2040 möglichst in allen Handlungsfeldern umzusetzen. Dazu erhoffen wir uns viele Hinweise aus der Bevölkerung – insbesondere der jungen Generation.

GVK und E-Partizipation: Worum geht es?

Es ist ein komplexes, aber wichtiges Thema: Es lohnt sich, einige Minuten zu investieren, um an der E-Partizipation des GVK Region Baden teilzunehmen.

Bis Sonntag, 16. Juli, um Mitternacht kann die Bevölkerung ihre Meinung zu Themen wie Strassennetz, öffentlicher Verkehr oder Stadt- und Freiraum schriftlich äussern. Die Erkenntnisse aus der E-Partizipation werden in die weiteren Arbeiten des Gesamtverkehrskonzepts (GVK) Raum Baden und Umgebung einfliessen.

Doch worum geht es eigentlich genau? Die Bevölkerung – und damit der Verkehr – werden bis 2040 um rund 30 Prozent zunehmen. Mit dem Wachstum steigen die Ansprüche an die Mobilität. Dieser Herausforderung will der Kanton Aargau mit dem regionalen Gesamtverkehrskonzept Ostaargau (rGVK Ostaargau) gerecht werden. Das GVK Raum Baden und Umgebung ist ein Teilkonzept des rGVK.

Neben verschiedenen Gremien und der Mobilitätskonferenz ist die E-Partizipation ein Pfeiler des Projekts. Teilnehmen kann man via untenstehendem Link. Unterteilt ist die E-Partizipation in fünf Handlungsfelder: Strassennetz und Betrieb, Bahn und Bus, Fuss- und Veloverkehr, Stadt- und Freiraum sowie Mobilitätsmanagement. Wählt man eines davon an, werden zuerst Thesen mit relativ viel Text präsentiert, es folgen Kommentare und Inputs der Teilnehmenden. Doch bevor man selbst kommentieren kann, muss man sich registrieren:
E-Mail-Adresse und Nickname eingeben, im Bestätigungsmail den Link anklicken, fertig.

Es ist ausserdem möglich, Kommentare von anderen zu beantworten. In einem sechsten Gefäss können Rückmeldungen zu weiteren Hinweisen aus der Mobilitätskonferenz deponiert werden.

ag.ch/gvk-baden-umgebung-epartizipation3