«Es war schon ein spezieller Abend. Man spielt ja nicht jeden Tag gegen Spanien. Es ist eine unglaubliche Qualität, die sie auf den Platz bringen», schwärmt Joël Mall, als er aus Granada nach Genf zurückgekehrt ist. Dennoch wurmt ihn die Kanterniederlage, die er mit Zypern erlitten hat. «Wir versuchten dagegenzuhalten und verloren trotzdem 0:6. Das ist einfach zu hoch, vor allem nach dem 0:3 gegen Schottland drei Tage vorher. Wir befinden uns in keiner guten Phase.» Das Team holte in fünf Spielen der EM-Qualifikation noch keinen einzigen Punkt. Gleichwohl freut sich Mall über die späte und unerwartete Berufung in die Nationalmannschaft der Mittelmeerinsel.
Fussballhunger hält an
Der 1,98 Meter grosse Torhüter wuchs in Brugg auf und spielte als Junior für den lokalen FCB, eher er zum FC Aarau wechselte und mit ihm 2013 den Wiederaufstieg in die Super League schaffte. Über die Grasshoppers kam er 2017 zu Darmstadt 98, wo er in der 2. Bundesliga aber keinen Stammplatz eroberte. Weil er regelmässig zum Einsatz kommen wollte, nahm er ein Angebot des FC Paphos an. Er machte sich schnell einen Namen und wurde so oft abgeworben, dass er letztlich für vier verschiedene zypriotische Clubs spielte.
«Obwohl uns Klima, Meer und Lebensart fehlen werden, suchte ich im Sommer 2022 nach einer neuen sportlichen Herausforderung», erzählt Mall. «Da ich kein Angebot erhielt, das meinen Vorstellungen entsprach, begann ich in der Schweiz nach Stellen für den Fall meines Rücktritts Ausschau zu halten.» Während seine Frau mit den beiden Kindern die Zeit in Darmstadt überbrückte, wohnte er vorübergehend bei seinen Eltern in Brugg und hielt sich mit Trainings bei Aarau und Baden fit. Dabei spürte er, dass sein Fussballhunger noch nicht gestillt war, und hängte bei Olympiakos Nikosia eine Saison an. Vor einem Jahr konkretisierten sich die Gespräche mit Servette Genf, wo nun der Ex-Aarau-Trainer René Weiler amtiert. Kurz darauf fragte der zypriotische Verband an, ob Mall bereit wäre, für die Nationalmannschaft zu spielen. «Da haben sich die Ereignisse wirklich überstürzt», erinnert er sich lachend. «Unmittelbar vor unserer Abreise in die Sommerferien in der Schweiz erhielt ich den Anruf, die Bürokratie habe sich beschleunigen lassen und die nach fünf Jahren mögliche Einbürgerung wäre gelungen. Ich solle in drei Tagen ins Trainingslager für das EM-Qualifikationsspiel gegen Georgien einrücken …»
Die vielen Unwägbarkeiten und Umzüge zählt Mall zu den grössten Herausforderungen im Leben eines Profisportlers, nicht nur für sich selbst, sondern für die ganze Familie. Er und seine Frau nutzten die freie Zeit, um im Fernstudium Diplome in Wirtschaft, Sportmarketing und Sportmanagement sowie als Mentaltrainer zu erwerben. «Für Kinder ist es schwieriger, mit dem Verlust der vertrauten Umgebung, des sozialen Netzwerks und fehlenden Sprachkenntnissen umgehen.» Ihren grossen Leidenschaften können Lio (4) und Noë (3) aber problemlos frönen. «Unsere Tochter geht zusammen mit ihrer Mutter ins Ballett, und unser Sohn ist so fussballverrückt, dass er 90 Minuten konzentriert zuschaut, wenn ich spiele, und mir nachher Fragen stellt, die ich noch nie gehört habe: ‹Papi, weshalb spuckst du in die Handschuhe, warum klatschst du immer an die Latte oder leerst ein wenig Wasser aus der Trinkflasche auf den Rasen, bevor du einen Schluck nimmst?›»
Mentale Stärke spielt grosse Rolle
Die Rituale scheinen Mall Glück gebracht zu haben, bekam er doch unerwartet schnell die Chance, anstelle des langjährigen Stammgoalies Jérémy Frick zu spielen, als dieser sich im hoch spannenden Champions-League-Qualifikationsspiel beim belgischen RK Genk verletzte. Mall trug mit seinen Paraden viel zum Sieg und zu der nur knappen Niederlage in der nächsten Runde gegen Glasgow Rangers bei. Die Teilnahme an der Gruppenphase der Europa League, die das ermöglicht hat, ist für einen Schweizer Club ein grosser Erfolg. Die Gegner sind AS Rom, Slavia Sofia und Sheriff Tiraspol. «Rom ist auf dem Papier der klare Favorit, die anderen Teams dürften in unserer Reichweite liegen», meint er. «Unser Ziel ist es, möglichst viele Punkte zu holen und möglichst europäisch zu überwintern.»
Nach dem ersten Spiel gegen Sofia heute Donnerstag folgt am Sonntag das schwere Spiel in Luzern. Nach dem harzigen Meisterschaftsstart mit nur sechs Punkten aus fünf Spielen will Servette zudem in der Super League regelmässig starke Leistungen zeigen. «Wer kämpft und beharrlich ist, wird irgendwann belohnt», sagt der 32-Jährige. «Neben den körperlichen Voraussetzungen und dem Ehrgeiz habe ich wohl auch diese Einstellung von meinem Vater geerbt.» Uwe Mall spielte ebenfalls für die Grasshoppers, allerdings Handball, und 100 Spiele für die Schweizer Nationalmannschaft. Mentale Stärke wird beim Torhüter eine zentrale Rolle spielen, wenn er seinen Platz in der Genfer Startformation gegen den nun wieder fitten Frick verteidigen will.
Fairness und Respekt – Werte, die er im Fussball gelernt hat, bevor er zu seinem Beruf wurde – sind ihm dabei wichtig. Deshalb freute es ihn, wie sympathisch die Stars wirkten, mit denen er es in letzter Zeit zu tun bekam. «Superstürmer Erling Haaland erkundigte sich nach einem Zusammenprall später, ob ich noch Schmerzen hätte, und die Spanier sprachen nach dem Spiel mit uns und fragten, ob wir Trikots tauschen wollten.»