«Putin ist ein politischer Zwerg»

Der Ukrainekrieg ist ein Zeitenbruch. An der Fachhochschule Nordwestschweiz werden die Hintergründe beleuchtet.
Osteuropa-Experte Professor Karl Schlögel. (Bild: zVg | Peter-Andreas Hassiepen)

Der Fachhochschulcampus in Brugg-Windisch ist ein Gewinn für die Region. Er gibt ihr unter anderem mit öffentlich zugänglichen Vortrags- und Seminarprogrammen kulturell-intellektuelle Impulse. So ist jetzt in der Reihe «Campus global Brugg» der Hochschule für Wirtschaft ein hochaktueller dreiteiliger Zyklus über Russland, Ukraine und Belarus angelaufen. Den Auftakt machte der deutsche Osteuropa-Experte und Publizist Professor Karl Schlögel. Vor vier Wochen kehrte er von einer weiteren Reise in die Ukraine zurück und schilderte beeindruckende Erlebnisse. Dazu analysierte er die Vorgänge in Russland sowie Präsident Putins Versuche, die imperiale Grösse der einstigen Sowjetunion wiederherzustellen.

Trotz Krieg die Würde behalten
Der Referent stellte fest, es brauche keine Dämonisierung Russlands mehr – die Realität sage alles. Zwei Flug­stunden von Zürich entfernt spiele sich eine Vernichtung ab, wie sie Europa seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt habe. Konkret: Angriffe auf Städte, Schulen, Spitäler, Kirchen, Theater, Bahnhöfe, Häfen und das Kernkraftwerk Saporischschja, Sprengung des Kachowka-Staudamms sowie Massaker und Massendeportationen – ohne wirkungskräftige Einsatzmöglichkeiten internationaler Organisationen wie dem IKRK oder der Atomagentur IAEA. Umso erstaunlicher sei, wie wenig im Westen gegen den russischen Überfall auf die Strassen gegangen werde – im Gegensatz zum Beispiel zu den Abertausenden antiamerikanischer Demonstrationen im Vietnamkrieg vor 50 Jahren.

Im bald zweijährigen Krieg leiste der ukrainische Staat, die Armee und die Zivilbevölkerung der Supermacht Russland in erstaunlicher Art Widerstand, bestätigte Karl Schlögel aus jüngster Anschauung. Er sei ziemlich ermutigt aus der Ukraine zurückgekehrt; mehr Sorgen mache ihm, ob der Westen durchhalte. Auf der Reise nach Kiew seien ihm pünktliche Züge und Busse, freundliches Personal und hilfsbereite Bewohner, saubere Plätze, Pärke und U-Bahn-Stationen aufgefallen. Trotz strengen Kontrollen und steter Alarmbereitschaft herrsche Gelassenheit. Die Menschen bemühten sich, eine Alltagsnormalität und ihre Würde zu behalten. 

Rätselhaftes Russland
Den Antrieb zum Angriff auf die Ukraine suchte Karl Schlögel vor allem im Zusammenbruch des Sowjetreichs, 1991, aus dem die Ukraine als selbstständiger Staat hervorging mit dem Wunsch, eigene Wege zu gehen, aber auch der heutige Putinismus erwuchs. Die russische Führung unter Wladimir Putin strebe wieder nach früherer Allmacht und komme nicht damit klar, dass die Welt der Imperien vorbei sei, betonte der Osteuropa-Historiker.

Man habe, so der Referent, bei der Auflösung der UdSSR geglaubt, damit sei ein Geschichtskapitel abgeschlossen, aber sich täuschen lassen, dass der Wandel ein langer Prozess werde. Es sei allerdings schwierig gewesen, vorauszusehen, was passieren würde. Nach wie vor seien manche Vorgänge in Russland rätselhaft. Doch mittlerweile stehe fest, dass die russischen Attacken – Stichworte: Tschetschenienkrieg 2004, Georgien-Einmarsch 2008, Donbass- und Krimbesetzung 2014, Syrien-Aleppo-Bombardierung 2020, Ukraine-Überfall 2022 – eine Kampfansage an den Rest der Welt bedeuteten. Russland tue alles, um die Ukraine zu zerbomben. Eine Militarisierung werde angekurbelt, die Schwung in abgehängte Gegenden bringe und Putin bei den Wahlen im nächsten Jahr Zustimmung verspreche.

Putins Versagen
Russlandkenner Schlögel stellte fest, Putin verfolge Grossmachtpläne, aber es sei ihm nicht gelungen, das einstige Sowjetimperium zu einem modernen, wirtschaftlich starken und sozial gefestigten Staat zu entwickeln. Hingegen habe er einen Ressourcenstaat geschaffen, der zwar vom Verkauf seiner Rohstoffe profitiere, jedoch zu wenig Innovationsschub entwickle. Der zum Autokraten emporgestiegene KGB-Funktionär habe ausser imperialen Visionen – die bisher scheiterten – kein Programm für das 21. Jahrhundert. Er sei einem intelligenten Russland nicht gewachsen. Abertausende Menschen habe er weggejagt oder eingesperrt. Das grosse Land sei in eine Falle geraten. Der Experte kam zu dem Schluss, Putin sei eigentlich ein politischer Zwerg – allerdings mit einem Arsenal an bedrohlichen Mitteln und deshalb ernst zu nehmen.

Die Schriftstellerin Katja Petrowskaja zur Lage in der Ukraine:
Montag, 30. Oktober, 19 Uhr
FHNW-Aula, Brugg-Windisch