Fünf Phasen des Fremdschams

In der Rubrik «Querbeet» beleuchten namhafte Autorinnen und Autoren ein von ihnen gewähltes Thema – und sorgen damit wöchentlich für Inspiration.

Die Wahlen sind vorbei, und wir haben sie überstanden, ohne vor Fremdscham im Boden zu versinken. Wir dürfen stolz sein, denn es war nicht einfach. Von grauenvollen Gesängen über furchtbaren Tanz bis zu KI-generierten Bildern, die uns als Wahrheit verkauft wurden – die Möglichkeiten, sich fremdzuschämen, schienen grenzenlos. Das Gefühl des Fremdschams ist in unserer digitalen Welt allgegenwärtig. Sei es ein peinlicher Moment im Fernsehen hier, ein unangemessener Social-Media-Post da oder eine befremdliche Werbekampagne. Aber wie läuft das Fremdschämen eigentlich genau ab?

Die erste Phase ist die des Nicht-wahrhaben-Wollens. «Das darf nicht wahr sein!» Beispielsweise, wenn ein Politiker oder eine Politikerin auf Tiktok tanzt und singt und dabei denkt, das würde junge Wähler ansprechen.

Anschliessend kommt die Wut. «Wie kann man nur so …?!», schreie ich – vielleicht nur innerlich – beim Lesen eines Onlineartikels über einen Verschwörungstheoretiker, der den Angriff der Hamas auf Israel verleumdet und verkündet, dass Israel den Angriff selbst inszeniert habe. 

In der dritten Phase beginnt die Verhandlung beziehungsweise die Rechtfertigung. «Vielleicht weiss sie es einfach nicht besser», sage ich mir, während ich den Post einer Influencerin lese, die ihren Hirntumor mit einer positiven Einstellung sowie Gemüsesäften behandeln will.

Es folgt das Unverständnis. Ich kann nur den Kopf schütteln, wenn ein Politiker Selfies im Regen macht und meint, dass die Temperaturen ja gar nicht stiegen. «Warum? Einfach nur, warum?», frage ich mich.

Am Ende steht die Resignation. «Also gut, dann ist es halt so.» Ich weiss, dass ich es nicht ändern kann, und scrolle weiter, in der Hoffnung, dass der nächste Post ein Katzenvideo enthält.

Fremdscham ist mehr als nur ein Gefühl; es ist ein Barometer für den Zustand unserer Gesellschaft, ein Schutzmechanismus in dieser seltsamen, digitalen Welt. Und sollten wir dieses Barometer jemals verlieren, dann gnade uns Gott.

marketing@leagrossmann.ch