Das erste Dezember-Wochenende brachte einen unerwarteten Wintereinbruch mit viel Schnee; viele freuten sich auf eine weisse Adventszeit. Doch die weisse Pracht wurde bereits in den nächsten Tagen vom Regen wieder weggespült. Am Samichlaustag, 6. Dezember, fand sich im Windischer Geissenschachen eine Gruppe von 21 Weissstörchen ein. Während einiger Stunden suchten sie dort Nahrung, meist in Form von Regenwürmern, und beschäftigten sich mit Gefiederpflege. Passanten staunten über diese ungewöhnlichen Gäste auf der Wiese, wo sonst die Brugger Springkonkurrenz stattfindet. Plötzlich flog ein Vogel ohne äussere Störungsursache auf, alle andern folgten ihm und der Trupp entschwand Richtung Westen. Dieselbe Gruppe war in den nächsten Tagen öfters zwischen Villnachern und Veltheim zu beobachten.
Immer mehr Störche ziehen nicht mehr weg
In früheren Jahren galten Weissstörche als typische Langstreckenzieher, die den Winter in Afrika südlich der Sahelzone verbrachten. Zugvögel können ihr Zugverhalten im Laufe der Zeit ändern, beispielsweise weil sie sich dem verändernden Klima anpassen oder sich günstigere Nahrungsquellen erschliessen. Immer mehr Störche verbringen heute den Winter in Mitteleuropa. Bei einem plötzlichen Kälteeinbruch im Überwinterungsgebiet ziehen diese ein Stück weiter südwärts oder in tiefere Lagen, wo sie an Orten ohne geschlossene Schneedecke oder Bodenfrost noch Futter finden. Dieses Verhalten bezeichnet man als Winterflucht.
Einige Störche waren beringt, und bei einem der Vögel gelang es, die Ringnummer fotografisch zu identifizieren. Von der Ringfundzentrale der Schweizerischen Vogelwarte war zu erfahren, dass dieser Vogel am 16. September 2009 als Nestling an einem Ort in Süd-Württemberg, ca. 40 km nördlich des Bodensees beringt wurde. Dieser Weissstorch hat also schon einige Jährchen auf dem Buckel.
Bereits im Winter 2020/2021 rastete eine Gruppe von Weissstörchen während mehrerer Wochen im Gebiet Schinznach/Veltheim (der «General-Anzeiger» berichtete). An anderen Orten im Aargau, vor allem am Flachsee oberhalb Bremgarten, können in jedem Winter grössere Ansammlungen dieser imposanten Vögel beobachtet werden. Dabei lassen sich manchmal bis zu 200 Störche zählen.
Adebar, der Glücksbringer
Der Weissstorch hatte für die Menschen schon immer eine Bedeutung in Märchen, Mythen und Sagen. Er galt bei vielen Völkern als Glücksbringer. Sein Fabelname «Adebar» setzt sich zusammen aus «Auda» für Glück und «bera» für tragen. Man schätzte sich glücklich, wenn Störche auf Tempeln und Heiligtümern, aber auch auf Wohngebäuden ihre Nester bauten und förderte dies, indem tellerförmige Gestelle auf den Dächern angebracht wurden. In früheren Zeiten gab es in ländlichen Gegenden oft Dörfer, in denen mehr Störche als Menschen lebten. Schon im griechischen und römischen Altertum meinten die Menschen erkannt zu haben, dass die jungen Störche ihre Eltern versorgten, wenn deren Kräfte im Alter nachliessen. Als Folge davon entstand im alten Rom die Lex Ciconaria – das sogenannte «Storchengesetz» – das Kinder dazu verpflichtete, sich um ihre Eltern im hohen Alter zu kümmern.
Im 18. Jahrhundert entstand die Legende vom Storch als «Überbringer der Babys». Vermutlich hat diese Geschichte ihren Ursprung in dem fürsorglichen Miteinander der Storcheneltern und ihrer Jungen. Dazu kam, dass Störche oft an Teichen, in Sümpfen und Mooren zu sehen waren, wo sich nach altem Glauben die Seelen ungeborener Kinder aufhalten.