Shemomedjamo

In der Rubrik «Querbeet» beleuchten namhafte Autorinnen und Autoren ein von ihnen gewähltes Thema – und sorgen damit wöchentlich für Inspiration.

«Shemomedjamo» steht auf einer Postkarte, die neben unserem Esstisch hängt. Ich habe sie aus dem Museum für Kommunikation in Bern mitgebracht. Sie gefällt mir: «Shemomedjamo» ist ein georgisches Verb, das einen Zustand beschreibt, für den wir im Deutschen kein Wort haben.

Manchmal fehlen uns Worte, weil Dinge so überwältigend sind. Bei jedem Versuch, das Erlebte zu beschreiben, fällt ein wenig von seinem Schrecken oder Zauber weg. Wie soll ich das Geräusch erklären, das Hunderttausende Bergfinken machen, wenn sie im Schwarm über dich fliegen, diese Dynamik, mein Hingerissensein? Mein Januarabend in Obersteckholz bleibt magische Erinnerung, unbeschreiblich. «Mångata» ist das schwedische Wort für «Reflektion auf dem Wasser, die wie eine schimmernde Strasse aussieht». So schön das klingt, ich bin ganz zufrieden mit dem wortlosen Genuss in meiner deutschen Muttersprache. So schimmert das Mondlicht leiser in mir und in jedem Menschen ganz anders.

So schön wie es ist, manchmal keine Worte zu haben, so wichtig ist es im Allgemeinen, dass wir Dinge in Worte fassen können. Der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein meint: «Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.» Damit will er ausdrücken, dass wir Dinge, für die wir keine Worte haben, nicht als (geteilte) Realität wahrnehmen können. Oft hilft das richtige Wort, einen Sachverhalt aus der Dunkelheit des eigenen Empfindens ins Licht einer gemeinsamen Erfahrung zu holen. Zum Beispiel haben Menschen, die sich in ihrem Geburtsgeschlecht unwohl fühlen, im letzten Jahrzehnt dafür einen Wortschatz und neue Sichtbarkeit in unserer Gesellschaft bekommen. Und ich freue mich gerade über den Begriff «Oversharing», der meine Tendenz beschreibt, in einer Situation plötzlich mehr von mir zu erzählen, als ich eigentlich wollte. Offenbar bin ich damit nicht allein. In diesem Sinne: genug für heute. Und wenn Sie das nächste Mal weiteressen, obwohl Sie schon satt sind, weil das Essen so lecker ist, dann geniessen Sie doch Ihr «shemomedjamo».

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