Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert wuchs der Alkoholkonsum beträchtlich. Auf Bitten des Blauen Kreuzes vermachte die letzte Herrin des Schlosses Wildegg, Julie von Effinger, 1911 den Kernenberghof einer Stiftung, der Von-Effinger-Stiftung. Diese sollte dem Laster der Trunksucht entgegenwirken. Diese Aufgabe wurde auf dem Kernenberg erfüllt. Mit Therapien und einer geregelten Arbeitsleistung wurden in der Anfangszeit nur Männer zur Abstinenz geführt. Das gelang nicht in allen Fällen, einige Männer wurden nach der einjährigen Kur wieder rückfällig.
In den vergangenen Jahrzehnten wurde anhand verschiedener Studien festgestellt, dass das Ziel der Abstinenz nicht der einzig wirksame Weg in der Suchtbehandlung ist. Gefragt ist ein erweitertes Angebot. In anderen Kantonen wurde das Konzept des kontrollierten Trinkens schon vor einiger Zeit erfolgreich eingeführt. Im Aargau ist das ein neues Thema.
Ein neues Angebot
Neben Reha, Wohnheim und Tagesstrukturen wurde im Effingerhort eine weitere Abteilung eröffnet. In der Pflegeabteilung werden Personen aufgenommen, die in der Alkoholsucht sehr belastet sind. Sie sind über 55 Jahre alt und haben seit längerer Zeit ein Alkoholproblem. Das Departement Gesundheit und Soziales, Aargau, bewilligte und unterstützt finanziell das zweijährige Pilotprojekt «kT 55+». In einem Vorgespräch wird die aktuelle Situation von Kandidatinnen und Kandidaten analysiert: Wie viel wird im Moment getrunken, wie ist das generelle Trinkverhalten? Es wird eine individuelle Vereinbarung hinsichtlich des Alkoholkonsums abgeschlossen, und es werden klare Verhaltensweisen getroffen. Alkoholische Getränke werden jeweils nach dem Mittag- und dem Nachtessen abgegeben. Die Menge wird dabei für jeden Einzelnen bestimmt. Es werden aber auch andere Getränke angeboten. Für die Kosten des getrunkenen Alkohols müssen die Patienten selbst aufkommen. Diese trugen sie vor dem Eintritt ins Pflegeheim ebenfalls.
Ausgebildetes Pflegepersonal unterstützt die Bewohnerinnen und Bewohner beim Tagesablauf. Das Trinken soll nicht die einzige Tätigkeit sein. Das Pflegepersonal hilft, sich mit der Suchtproblematik und neuen Handlungsstrategien auseinanderzusetzen. Die Beschäftigung ohne Alkohol wird thematisiert und praktisch umgesetzt. Ziel ist eine Wiedereingliederung in den Lebensbereich mit kontrolliertem Trinken oder die Abstinenz. Studien beweisen, dass kontrolliertes Trinken funktionieren kann. Raffaella Lovisetto, Leiterin Pflege, hat bereits einige Vorgespräche geführt, sodass die zwölf vorgesehenen Plätze bald besetzt werden können.
Im Herbst 2024 wird zusammen mit Fachexperten und den Bewohnern das Projekt ausgewertet und soll für 2025 spezifisch auf die Bedürfnisse der Zielgruppe angepasst werden.
Neuer Geschäftsführer
Am 1. März begann Cédric Kaiser seine neue Tätigkeit als Geschäftsführer der Effingerhort AG. Zu diesem Engagement kam er über sein Amt als Stiftungsrat der Stiftung Faro, die Wohnplätze und geschützte Arbeitsplätze für Menschen mit einer Beeinträchtigung anbietet.