Der Regisseur Patrick Thurston über seinen Film «Greina»

Patrick Thurston (60) erzählt im faszinierenden Film «Greina», wie die Kunst von Bryan Thurston (91) einen Staudamm verhinderte.
Der britische Architekt, Künstler und Aktivist Bryan Thurston lebt in der Schweiz und wurde kürzlich 91 Jahre alt. (Bild: zVg)

Was verbinden Sie mit der Greina-Hochebene?
Sie ist für mich eine Kindheitserinnerung an anstrengende Wanderungen mit meinem Vater im Frühsommer, meistens noch in tiefem Schnee. Durchnässte Wanderschuhe, eine ganz bescheidene SAC-Hütte mit einem Schlafraum für 25 Leute. Später habe ich die Greina oft allein besucht. Die grosse, weite, einsame Landschaft wurde zu einer Art Meditationsort. Die Natur lehrte mich Bescheidenheit, schenkte mir aber auch Geborgenheit. Heute ist sie für mich vor allem eine Vater-Sohn-Geschichte.

Ihr Film zeigt, dass Sie ambivalente Gefühle für Bryan Thurston haben.
Einen Vater wie ihn zu haben, ist nicht einfach. Bryan ist kürzlich 91 Jahre alt geworden, eine Person mit übersprühender Lebensenergie, die immer noch von sich sagt, sie sei «full of beans», voller Energie und Enthusiasmus. Einerseits ist das bewundernswert, ebenso wie sein Lebenswerk als Künstler und Aktivist. Andererseits ist es für mich schwierig, da er in seinen Welten schwelgt. Er fabuliert, hat aber Mühe mit dem Zuhören. Das ist schwierig. Ich habe das besonders gemerkt, als ich mich entschieden habe, ihm als Filmemacher zu begegnen.

Was hat sich dadurch verändert?
Ich habe gelernt, alles auszublenden, was zwischen uns stand, ihm einfach zuzuhören und ganz viel stehen zu lassen. So bin ich meinem Vater wieder nähergekommen und kann ihn jetzt wieder mögen, wie er ist.

Was hat Sie vorher am meisten geschmerzt?
Ich glaube, jeder würde gern in seiner eigenen Art wahrgenommen. Die Tragödie in den Vater-Sohn- und Mutter-Tochter-Beziehungen ist oft, dass Dinge hineinspielen, die schon über Generationen weitergegeben werden. Bryan hat selbst schwierige Zeiten erlebt. Die Familie kam im Zweiten Weltkrieg nach London. Als die Stadt in der Endphase nochmals massiv bombardiert wurde, schickten seine Eltern ihre Kinder zu Verwandten aufs Land. Als sie nach dem Krieg zurückkamen, war die Mutter nicht mehr da. Sie starb zwar nicht im Krieg, aber an Krebs. Dieses Trauma hat sein Leben sehr geprägt.

Wie kamen Sie auf die Idee, diesen Film zu drehen?
Vor ein paar Jahren versuchte ich auf seinen 90. Geburtstag hin, eine Retrospektive seines künstlerischen Werks zu initiieren, doch aus unterschiedlichen Gründen sagten alle Museen ab. Dann haben mir meine beiden Söhne, die als Kinder nie in die Berge wollten, inzwischen aber auf den Geschmack gekommen waren, eine gemeinsame Greina-Wanderung geschenkt. Da begann ich spontan zu drehen, noch mit dem Handy. Als ich fürs Schneiden Hilfe suchte, sagten der Filmemacher Aaron Nick und die Cutterin Marlen Schmid: «Das müssen wir professionell machen.»

Mit welchen Konsequenzen?
Für mich war klar, dass es ein Kino­film werden soll. Wir erstellten ein Konzept und zogen mit Kamera, Licht und Ton los. Marlen Schmid sagte schon früh, sie wolle, dass man «diesen Mann» gernhaben könne. Ich dachte: «Ups, kann ich das zulassen?» Und es passierte etwas in mir. Ich glaube, das spürt man im Film, den Wunsch, aus diesem Konflikt herauszukommen. Ich bin alt genug geworden, bis ich diesen Schritt wagte und wusste, dass mir vielleicht nur einige Tage, Wochen oder Monate bleiben, da ein Mensch in diesem Alter jederzeit sterben kann.

Der Regisseur Patrick Thurston. (Bild: rhö)

Wann haben Sie die Greina kennengelernt?
1971, ich war 11 Jahre als, als ich mit meinem Vater von Männedorf zum ersten Mal dorthin fuhr. In der Folge ging ich fast immer mit, mehrmals pro Jahr. Wir verbrachten die Ferien mit der Familie stets in der Greina oder in der Umgebung – in der Survelva, in Vals, Disentis oder im Bleniotal. Nur einmal waren wir im Wallis. Wir wären sicher nie ans Meer gefahren und waren nie in England. Das ist ein verschütteter Teil meiner Kindheit. Die ganze englische Verwandtschaft ist mir unbekannt, bis auf einen Cousin, der uns hin und wieder besuchte. Bryan hat uns seine Heimat nie gezeigt, auch nicht Schottland, seine Sehnsuchtslandschaft. Er war verliebt in die Greina, in der er ihre Entsprechung fand.

Kam er aus beruflichen Gründen in die Schweiz?
Für einen Architekten war sie damals nicht uninteressant, aber es war der Klassiker: Bryan hatte sich in seinen Ferien in Schottland in meine Mutter verliebt und ist ihr gefolgt. Als sehr feinfühlige Person war er wohl zudem froh, um den zweijährigen Militärdienst herumzukommen.

Welche Rolle hat Ihre Mutter in der Familienkonstellation gespielt?
Eine interessante Frage, die noch niemand gestellt hat. Sie hat den ­Laden geschmissen, und er hat seine Talente ausgelebt. Es war für sie eine enorme Zerreissprobe, aber sie hatte Ja gesagt zu diesem Mann, ist – auch aus katholischer Überzeugung – zu ihm gestanden und hat ihm den Rücken freigehalten. Ein Leben lang. 

Und Ihr Vater?
Bryan macht alles mit Leidenschaft. So hat er meine Mutter geliebt, die zehn Jahre älter war als er und schon vor längerer Zeit gestorben ist, so war er Architekt und hat sich für diese schützenswerte Berglandschaft engagiert. Als bekannt wurde, dass ein Staudamm gebaut werden soll, hat er sofort gesagt: «Nur die Poesie kann die Greina retten.» Als ich selbst politisiert wurde, hat mich das beeindruckt, zumal man weiss, dass man in der Schweiz sonst Geld und gute Anwälte braucht, wenn man etwas erreichen will.

Wie erklären Sie sich, dass Ihr Vater trotzdem Erfolg hatte?
Er hat sein Credo, Gott sei Dank, mit Passion gelebt, beharrlich und künstlerisch überzeugend vertreten, mit dem, was er am besten kann, indem er als Zeichner die Greina mit ihren Stimmungen einfing. Im Film sagt er: «It’s not me. It’s something outside me which presses what has to be done.» Er empfindet seine Arbeiten nicht als seine intellektuelle Entscheidung, sondern als eine innere Notwendigkeit. Er stellt sich in den Dienst der Sache. Die Leute lieben ihn heute noch wegen seiner damaligen Werke. Was ihn etwas wurmt, weil er längst ganz andere Sachen macht.

1987 hat die Rothenturm-Initiative zum Schutz von Moorlandschaften geführt. Wie war das bei der Greina?
Ein Jahr zuvor hatten die NOK (Nordostschweizer Kraftwerke, heute Axpo) das Staudammprojekt fallen gelassen, was natürlich nicht nur Bryans Verdienst war. Hans Weiss, der damalige Geschäftsführer der Stiftung für Landschaftsschutz, zog die politischen Fäden.

Sie sind wie Ihr Vater Architekt. ­Haben Sie das Talent von ihm, oder wollten Sie ihm etwas beweisen?
Als Legastheniker war ich schulisch nicht in der Lage zu studieren. Ich machte eine Lehre als Hochbauzeichner. Da ich ein passionierter Hobbyornithologe war, ergab es sich danach, dass man mich fragte, ob ich die Geschäftsstelle des Zürcher Vogelschutzes aufbauen wolle. Nach 13 Jahren und einem oft frustrierenden Kampf gegen Windmühlen absolvierte ich eine Kunstschule, bei der ich meine Frau kennenlernte. Als unsere Kinder auf die Welt kamen und sie Medizin studierte, zog ich zu ihr nach Bern und begann, dort ein Architekturbüro aufzubauen.

Ich stelle mir das schwierig vor, ohne akademischen Abschluss und in einem neuen Umfeld.
Ich sah das als Chance, mir hier, wo mich niemand kannte, einen eigenen Namen machen zu können. Da wir die einzigen Thurstons in der Schweiz sind, war ich in Zürich ständig mit meinem Vater verwechselt worden. Ich arbeite mit einem architektonischen Wissen, das ich mir weitgehend autodidaktisch angeeignet habe, und einem kleinen, aber feinen Team.

Welches sind die bekanntesten ­Gebäude, die Sie entworfen haben?
An erster Stelle steht das Bärenwaldhaus im Tierpark Dählhölzli, wo die Bärenanlage erneuert wurde, als der russische Präsident Medwedew der Schweiz zwei sibirische Bärenkinder mitgebracht hatte. Mit ihm gewannen wir ebenso wie mit dem Lager für 75 historische Postautos, das wir für das Museum für Kommunikation in Schwarzenburg gestalteten, den nationalen Preis für Holzbauten.

Wie hat Ihr Vater reagiert, als Sie ihm eröffneten, dass Sie ihn filmen wollten?
Anfänglich meinte er immer, ich würde ein Buch machen, weil er das von sich kannte, und wollte mir entsprechende Tipps geben, dann glaubte er, dass es um ihn als Architekten gehen müsse, da er sich nicht als Künstler fühle – ehe eine Äusserung zwei Minuten später das Gegenteil belegte.

Wie gefällt ihm Ihr Film?
Er hat erst den Rohschnitt gesehen. Wir hatten abgemacht, dass er zur Premiere in Männedorf kommt, um den fertigen Film auf der Kinoleinwand zu sehen. Nun hat er leider abgesagt. Er sei schlecht zu Fuss und könne nicht mehr so lang sitzen. Das verstehe ich zwar, aber es ist trotzdem ein Schlag in die Magengrube, weil ich mir gewünscht hätte, wir könnten diesen Moment teilen. Ausserdem könnte Bryan das Publikum bestens unterhalten. Er ist eine theatralische Figur mit einer unglaublichen Präsenz und ohne Hemmungen. Ein Naturereignis.

Weshalb nennen Sie Ihren Vater so oft bei seinem Vornamen?
Als Kind nannte ich ihn Daddy, doch mit der Pubertät kam der Wunsch, ihn bei seinem Vornamen zu nennen. Es hat ihm nichts ausgemacht.