Über Generationen vom Schicksal geprägt

Den Holocaust kennen die Schülerinnen und -Schüler nur aus dem Geschichtsunterricht. Nun konnten sie einem Nachfahren Fragen stellen.
Tief beeindruckt: Die Jugendlichen und Lehrerin Sonja Kreiner hören Raoul Rosenbergs Schilderungen zu. (Bild: ub)

Der Thementag zum Motto «Grenzen» wurde von den verschiedenen Lehrpersonen und Schulgängern der Kantonsschule Baden sehr unterschiedlich in Szene gesetzt. Die beiden Geschichtslehrerinnen Sonja Kreiner und Daniela Tenger entschieden sich, an diesem 23. September Zeitzeugen des Holocausts einzuladen. Rund 1,5 Millionen Menschen wurden zwischen 1940 und 1945 in Auschwitz ermordet. Weil die direkt Betroffenen fast ausgestorben sind, erzählen heute ihre Nachkommen ihre Geschichten. Dafür engagiert sich die Stiftung Erziehung zur Toleranz, SET. «Wir tragen das ‹Nie wieder› der ersten Generation von Shoah-Überlebenden weiter und leisten ­damit einen Beitrag gegen Geschichtsverfälschung und für ei­nen leben­digen, kompetenzorientierten Geschichtsunterricht», erklärt Projektleiter Urs Urech.

Geburtsjahr 1933 – ein Fluch
Der Holocaust prägt die betroffenen Familien auch Generationen danach. Einer davon ist der 57-jährige Raoul Rosenberg, Dozent für soziale Arbeit in Luzern. Er erzählt den anwesenden Jugendlichen von seiner Grosscousine Lilly, zu welcher er bis zu ihrem Tod 2019 in engem Kontakt stand.

Sie entkam mit zwei Brüdern dem Konzentrationslager. Ihre zwei weiteren Geschwister und die Eltern wurden in den Gaskammern von Auschwitz ermordet. «Ich bin seit über fünf Jahren am Aufarbeiten meiner Familiengeschichte und habe gegen dreissig Angehörige, die im Holocaust umgekommen sind oder vertrieben wurden. Das steckt einem auch Generationen später noch in den Knochen», erklärt Rosenberg.

An der Wandtafel hängen die Fotos seiner Vorfahren. Lillys Mutter war Schweizerin und wuchs in Zürich auf. Sie wanderte mit ihrem polnischen Mann nach Amsterdam aus. Dort wurde Lilly 1933 geboren. Im Jahr, als Adolf Hitler in Deutschland die Macht ergriff. «Sie hat mir immer wieder ­gesagt, dass ihr Geburtsjahr wie ein Fluch war», erzählt Raoul Rosenberg. Sein geschichtlicher Exkurs führt über die Anfänge einer ganz normalen Mittelstandsfamilie, das Nürnberger Rassengesetz, welches 1935 in Kraft trat, bis zur Kristallnacht: Damals wurden Tausende von jüdischen Geschäften und Synagogen niedergebrannt, und viele Menschen starben.

Rosenbergs Grossmutter flüchtete als 17-Jährige ganz alleine mit nur einem Koffer in die Schweiz. «Das erinnert an die heutigen Flüchtlinge aus Syrien oder der Ukraine», meint der Referent sichtlich berührt.

Im Gegensatz zu anderen Ländern war Holland noch relativ unbehelligt von Verfolgungen. Bis 1942, als an der Wannseekonferenz die Ausrottung von 11 Millionen Juden beschlossen wurde.

Im selben Jahr wurde der Judenstern als Kennzeichnung eingeführt. «Lilly erzählte mir, dass sie sich geschämt hat, damit herumzulaufen.» Im Sommer 1942 mussten sich alle Juden registrieren lassen. «Da wusste man schon, dass viele Menschen auf Nimmerwiedersehen in den Osten deportiert werden. Die Situation war enorm beklemmend.»

Der Horror nimmt seinen Lauf
Verschiedene Fluchtversuche scheiterten. Lillys Familie wurde im Dezember 1942 ins Durchgangslager Westerbork deportiert. Von dort fuhr jeden Dienstag ein Zug mit tausend Menschen nach Auschwitz. Auf einer Rampe fand die Selektion statt: Arbeitslager oder Gaskammer. Die Eltern von Lilly und zwei Brüder wurden in den Tod geschickt. Sie waren damals 47, 43, 19 und 16 Jahre alt. Auch Lilly und ihre anderen zwei Geschwister waren in Westerbork. Dreimal standen sie auf der Liste nach Auschwitz. Dank der Verwandtschaft in der Schweiz und einem bürokratischen Hin und Her konnten die drei schliesslich mit gefälschten Pässen ins «humanere» KZ nach Theresienstadt gelangen.

«In den letzten Wochen vor der Befreiung durch die Russen musste sie stundenlang Urnen mit den Überresten der verstorbenen Juden entsorgen. So sollten die Gräueltaten verdeckt werden», schildert Rosenberg. 1945 kehrte Lilly nach Zürich zu ihren Verwandten zurück, ihre Brüder Leo und Charly kamen zu einem Onkel nach Amerika. «Meine Grosscousine holte die Oberstufe nach, heiratete später einen Basler und wanderte mit ihm nach Israel aus.» Sie bekamen zwei Kinder und fünf Enkel. Alle haben einen Schweizer und einen israelischen Pass und blieben ihrer Heimat verbunden. Das Leben ging weiter.

Aufarbeitung, nicht Rache
Was ging den Schülerinnen und Schülern durch den Kopf, als sie dieses Schicksal aus erster Hand hörten? Wie sich der Schmerz und das Trauma auf die nachfolgenden Generationen ausgewirkt haben, möchte ein Jugendlicher wissen. «Manchmal kommen mir die Tränen, weil ich emotional so aufgewühlt bin», bekundet Rosenberg. Ob man schon immer so offen über die Vergangenheit geredet habe, fragt ein anderer Schüler. «Nein. Viele waren so traumatisiert, dass sie alles verdrängen wollten. Meine Mutter erfuhr von einer Mitschülerin, dass sie jüdisch ist. Ich habe als Kind nicht darüber reden können und mich im Turnunterricht versteckt, damit man nicht sieht, dass ich beschnitten bin.»

Keine Tätowierungen
Tattoos sind für Rosenberg bis heute ein No-Go. Wegen der Nummern, die den Juden im KZ eintätowiert wurden. Vorurteile gegenüber Deutschen hat er aber nicht. «Man muss unterscheiden zwischen Leuten, die damals im System waren, und den Generationen von heute.» Hatte er schon das Verlangen nach Rache? «Nein. Ich möchte Aufarbeitung. 95 Prozent der Täter wurden nie zur Rechenschaft gezogen.» Rosenbergs Schilderungen beeindrucken die Jugendlichen tief. «Es ist enorm wichtig zu wissen, welche Einflüsse das Ganze auf damals, aber auch auf heute hat. Aus normalen Menschen und Familienvätern wurden Bestien. Kann das Unvorstellbare wieder passieren?», fragt Rosenberg.

Propaganda spiele dabei eine grosse Rolle, meint Lehrerin Sonja Kreiner, «es lohnt sich, schon früh darauf achtzugeben, in welchem Umfeld man sich beispielsweise auf Social Media bewegt und wie stark man von Meinungsmache gesteuert wird. Vieles fängt immer ganz harmlos an.»