Fitness für die Ohren und das Gedächtnis

Hörtraining ist für Schwer­hörige nicht nur aus gesundheitlichen Gründen wichtig. Es ermöglicht Betroffenen auch soziale Kontakte.
«Zwei Finger reiben aneinander»: Zwei Teilnehmerinnen zeigen die Eselsbrücke für den Buchstaben «R». (Bild: is)

Im Kursraum der Pro Senectute in Baden wird gescherzt und gelacht. Ein halbes Dutzend Frauen sitzt an den Tischen, die hufeisenförmig aufgestellt sind. «Diese Anordnung ist wichtig, damit die Teilnehmerinnen besser gegenseitig vom Mund ablesen können», erklärt Kursleiterin Sabrina Giezendanner. Dass die meisten Anwesenden schwerhörig sind, fällt auf den ersten Blick gar nicht auf. Die Stimmung ist familiär und fröhlich, man kennt sich, viele kommen schon seit Jahren ins Hörtraining des Fachverbands «Pro Audito» Baden. «Alle in dieser Gruppe haben ein unterschiedliches Restgehör», erklärt die Kursleiterin. Während manche dank einer guten Hörgeräteversorgung kaum eingeschränkt sind, verstehen andere schon bei Nebengeräuschen nichts mehr.

Auch das beste Hörgerät oder Implantat vermag jedoch einen Hörverlust nicht vollkommen zu kompensieren. Die Lücke kann man mit einem gezielten Hörtraining mit Lippenlesen verkleinern. Sabrina Giezendanner ist eine von drei diplomierten Audioagoginnen – auch «Verständigungstrainerinnen für hörbeeinträchtigte Erwachsene» genannt –, die im Auftrag des Verbands «Pro Audito» Baden Kurse in Hörtraining und Lippenlesen gibt.

Bei den Kursen gehts nicht nur darum, anderen von den Lippen ablesen zu können. «Zum Kursinhalt gehört auch Gedächtnistraining, denn das eine ist mit dem anderen eng verknüpft», sagt Monica Varghaiyan, die Präsidentin von «Pro Audito» Baden. Da viele Teilnehmer älter sind, ist Fitness fürs Gedächtnis umso wichtiger.

Eselsbrücke für das «R»
Kursteilnehmerin Claudia war schon von Geburt an schwerhörig. «Seit ich 18 Jahre alt bin, gehe ich in Kurse. Und jetzt bin ich 75», erzählt die aufgestellte Rentnerin. Sie und die anderen Frauen – auch ein paar Männer sind dabei – nehmen engagiert am Unterricht teil.  An jedem der zehn Kursabende wird ein Laut thematisiert. Heute ist das «R» an der Reihe. Im Fingeralphabet, das jede Teilnehmerin vor sich liegen hat, wird dieser Laut mit gekreuztem Zeige- und Mittelfinger dargestellt. «Als Eselsbrücke für das R könnt ihr euch folgenden Spruch merken», sagt Giezendanner: «Zwei Finger reiben aneinander.» Weil das «R» an 3. und 4. Sprechstelle im Rachen gesprochen wird, ist es nicht ganz einfach zu erkennen: «Man muss es durch die Kombination in einem Wort erahnen», erklärt die Kursleiterin. Je nachdem formt sich der Mund dabei breiter oder schmaler.

In Zweiergruppen bilden die Frauen anschliessend Sätze, die sie sich gegenseitig lautlos vorsprechen. Eine gute Übung auch deshalb, weil man auch im Alltag immer wieder auf unterschiedliche Gegenüber trifft. Den Abschluss des ersten Kursteils bildet ein Lückentext zum Thema Rad. «Auch im Alltag begegnen Schwerhörige ja häufig Lückentexten, weil sie nicht alles verstehen. Vieles kann man aber aus dem Zusammenhang heraus ausfüllen», erklärt Sabrina Giezendanner. Für die Pause hat sie wie immer etwas Süsses mitgebracht – heute sind es, passend zum Thema, Willisauer «Ringli».

Grosse Unterschiede
Im zweiten Teil des Abends stehen Hör- und Gedächtnistraining im Fokus. Dafür liest die Kursleiterin einen Text vor, zuerst leiser, dann lauter. Anschliessend müssen die Teilnehmerinnen Sätze mit dem Wort «Ball» bilden und diese lautlos vorlesen – die übrigen müssen den Blick aufs Blatt vor ihnen richten und dürfen nicht von den Lippen ablesen. Hier werden Unterschiede deutlich – manche verstehen ohne Sichtkontakt nur wenig.

Mit einer letzten Aufgabe werden die Gehirnzellen nochmals spielerisch beschäftigt: Sabrina Giezendanner verteilt Farbstifte und eine Zeichnung mit einem Glas, in dem sich dreissig durchsichtige Murmeln befinden. Dann liest die Kursleiterin verschiedene Aufgaben vor, welche die Frauen lösen müssen. Es geht darum, die Murmeln mit den Farben auszumalen, und am Ende bleiben drei weiss.

Yoga- und Pilates-Kurse
Dann räumt Sabrina Giezendanner die fünfzehn Gegenstände, die sie zu Beginn des Abends auf einem Tisch platziert hatte, wieder in eine Tasche – und hat doch noch eine Aufgabe für die fünf Frauen parat: «Könnt ihr alle fünfzehn Gegenstände nochmals aufzählen?» Mit vereinten Kräften schafft es die fröhliche Gruppe. So endet der Kursabend mit einem Erfolgserlebnis, und alle gehen beschwingt nach Hause. Sabrina Giezendanner ist zufrieden. «Die Teilnehmerinnen kommen sehr gern in die Kurse. Hier treffen sie auf Gleichgesinnte und trauen sich etwas. Denn häufig ist der soziale Rückzug ein Problem von Hörgeschädigten.» Der Verband «Pro Audito» organisiert deshalb auch andere Kurse, zum Beispiel Yoga und Pilates, wo Schwerhörige in normalen Kursen nichts verstehen würden. «Und häufig getrauen sie sich nicht nachzufragen», weiss Giezendanner. Die Kurse sind von der AHV/IV subventioniert. Die neuen Kurse à 10 Blöcke starten ab 9. Januar 2023 beziehungsweise am 12. Januar 2023. Anmeldungen sind online über proaudito-baden.ch möglich.